Kybernetik zweiter Ordnung
Von Foerster trug zur Weiterentwicklung der Kybernetik bei, insbesondere mit seiner Arbeit im Bereich der „Kybernetik zweiter Ordnung“. Während die Kybernetik erster Ordnung sich mit der Steuerung von Systemen befasst, die von einer oder einem Beobachter:in unabhängig sind, bezieht sich die Kybernetik zweiter Ordnung darauf, wie Beobachter:innen Systeme wahrnehmen, verstehen und ihnen Bedeutung geben. In der Kybernetik zweiter Ordnung, die auch als „Kybernetik der Selbstorganisation“ bezeichnet wird, geht es darum, wie Beobachter:innen (Menschen oder andere Systeme) ihre eigenen Perspektiven, Annahmen und Vorstellungen in den Beobachtungsprozess einbringen – zum Beispiel durch Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und vor allem durch ein Bewusstsein über den Beobachtungsprozess an sich. Denn die beobachtende Person ist selbst Teil des Beobachtungsprozesses und ist sich ihrer Subjektivität bewusst. Sie hat darüber hinaus die Eigenschaft der Selbstreferenzialität, das heißt, sie nimmt auf sich selbst Bezug. Das führt zur Fähigkeit der kontinuierlichen Anpassung und Selbstregulation. Systeme (Menschen, Teams, Organisationen) können sich also aufgrund ihrer Selbstbeobachtung und Selbstreflexion kontinuierlich an sich verändernde Umstände anpassen. Dies ermöglicht eine flexiblere Reaktion auf neue Informationen oder sich ändernde Rahmenbedingungen.
Was bedeuten die Erkenntnisse Heinz von Foersters für uns konkret als Moderator:innen, Gruppenleiter:innen, Trainer:innen oder Coaches?
„Eine Perspektive ist eine Perspektive ist eine Perspektive“ Oder: Warum das „Kondom-Modell“ ungeeignet ist
Jeder Mensch hat seine Erlebniswelt, sein eigenes Modell der Welt. Dieses wird selbst konstruiert, nur ist das häufig in der Alltagskommunikation nicht deutlich. Menschen im Allgemeinen und Teilnehmende im Speziellen agieren oft mit einer unterstellten Objektivität, die es jedoch nicht gibt. Sie stülpen quasi den anderen am Kommunikationsgeschehen Beteiligten ihre Wirklichkeit als allgemein gegeben über: Bei METALOG nennen wir dieses Phänomen gerne mit einem Augenzwinkern das „Kondom-Modell“. Denn wie Heinz von Foerster meint: „Objektivität ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne einen Beobachter gemacht werden könnten.“ Statt Objektivität haben wir jedoch eine Art subjektiver innerer Landkarte der Welt – geprägt durch unsere Überzeugungen, Werte, Erfahrungen und Wahrnehmungen –, die uns zur Orientierung in der äußeren Welt dient.
Auswahl einiger zentraler Aussagen des Radikalen Konstruktivismus:
Subjektive Wirklichkeit: Die Realität wird als subjektiv wahrgenommen und konstruiert. Individuen erschaffen ihre eigene Realität durch Interpretationen und Sinngebung.
Begrenzte Erkenntnis: Da die individuelle Wahrnehmung und Interpretation von Informationen subjektiv ist, können Menschen die objektive Realität nie vollständig erfassen. Die Erkenntnis ist daher immer begrenzt und individuell geprägt.
Multiple Realitäten: Aufgrund der individuellen Konstruktion von Wissen gibt es verschiedene, gleichwertige Realitäten. Jeder Mensch kann seine eigene Wirklichkeit erschaffen, die von der Realität anderer Menschen abweichen kann.
Diese subjektive innere Landkarte umfasst mentale Filter, Interpretationen und Verallgemeinerungen über die Welt und ist so unter anderem eine Art blitzschneller, wirklichkeitserzeugender Fokussierung, wie folgender Fall zeigen möchte:
Ein Teilnehmer einer Teamentwicklung meint: „Wir haben ein Problem …“ Der Moderator sollte dieser Aussage nicht auf den Leim gehen, denn die Perspektive aller anderen, die mit im Raum sitzen, ist in dieser Aussage quasi weghypnotisiert. Wenn der Moderator sich dennoch auf diese Aussage einlässt, werden alle Personen im Raum sozusagen blitzschnell in eben diese Perspektive eingesaugt – was möglicherweise zu einem unnötigen Aufblähen des Problemfokus führen kann.
Was könnte eine geschickte Reaktion des Moderators auf die zitierte Feststellung des Teilnehmers sein? Möglicherweise ist es ein: „Okay, danke für diese Sichtweise. Sehen das alle so? Welche anderen Sichtweisen gibt es denn noch hier im Raum?“ Denn für die gesamte Gruppe wird es hilfreich sein, die Perspektiven der anderen wahrzunehmen und auch zu ergründen.
Natürlich stellt dieses Beispiel nur einen kleinen Ausschnitt möglicher Kommunikationsdynamiken innerhalb von Gruppen dar. Es soll lediglich verdeutlichen, dass sich Moderator:in und die Gruppe andauernd in einem Zustand der Wirklichkeitskonstruktion befinden, der durch die Beiträge aus den verschiedenen Perspektiven entsteht und niemals zu einem Ende kommt, sondern fortwährend elastisch weitergewebt wird. Es ist dieser ko-kreative Prozess, den es zu gestalten gilt, um durch die verschiedenen Sichtweisen einen Schritt vorwärtszukommen.
Bei METALOG waren die Prinzipien der Kybernetik 2.0 besonders prägend für die Entwicklung von Collaboration Puzzle, WortSpiel, KommunikARTio und FutureCity.
Im Folgenden noch einige Beispiele, wie die Perspektiven der Teilnehmenden von uns als Moderator:innen wirkungsvoll mit eingebunden werden können.
Die Beobachtungsperspektive während der Durchführung von Interaktionsaufgaben konkret nutzbar machen
Wenn Teilnehmende bei einem Lernprojekt als Beobachter:innen eingesetzt werden, haben diese eine Außenperspektive auf das Geschehen; sie greifen nicht in den Gruppenprozess ein. Dieser Meta-Blickwinkel ist für Gruppen besonders wertvoll, da die Beobachtenden später, nach dem Erleben, die Gruppe mit Rückmeldungen beim Lernen unterstützen können. Ihre innere Haltung sollte dabei möglichst neutral und unparteiisch sein.
• Beobachter:innen können bei jedem Lernprojekt sinnvoll eingesetzt werden. Einige Ziele des Einsatzes von Beobachter:innen können sein:
• Rückmeldungen durch Gruppenmitglieder statt von außen durch den:die Trainer:in
• Das Wertschätzen der Blickwinkel, Meinungen und Wahrnehmungen der Teilnehmenden (die hier in der Beob-achterrolle sind)
• Teilnehmende in der Rolle des Be-obachters üben, Wahrnehmung und Interpretation voneinander zu trennen und Rückmeldung zu geben
• Die Außenperspektive ist eine wertvol-le Lernposition. Zwar ist der:die Teil-nehmende in der Rolle des Beobachters scheinbar nicht aktiv am Lernprozess beteiligt, muss diesen aber äußerst aufmerksam verfolgen, da er:sie ja am Ende nach seiner:ihrer Perspektive ge-fragt wird.
• Teilnehmer:innen lernen, vermehrt Stär-ken und Kompetenzen wahrzunehmen
• Es entsteht durch den Einsatz von Beobachter:innen ein „Puffer“ bzgl. der Gruppengröße, da die Anzahl der Be-obachtenden zwischen 1 und ca. 6 va-riieren kann. So kann der:die Trainer:in bei Lernprojekten, die eher weniger Akteur:innen fordern, auch die übrigen Teilnehmenden integrieren.
Um wirklich hilfreiche Rückmeldung geben zu können, ist es zieldienlich, einen Beobachtungsfokus vorzuschlagen. Denn während der Interaktionsaufgaben gibt es viel zu beobachten, z. B. …
• Kommunikation, Kontakt, Beziehung: Körpersprache (zugewandt/abgewandt, Augenkontakt, Berührungen, Pacing etc.), aktives/reaktives Verhalten, Lachen/leises Reden
• Koordination, Teamleistung: Absprachen, nonverbales Einverständnis, wie wird Vertrauen gelebt?
• Umgehen mit Schwierigkeiten: Werden Schwierigkeiten als Herausforderungen begriffen oder als Fallstricke? Rappelt sich die Gruppe wieder auf, wenn sie gescheitert ist? Welche Lösungswege werden beim Umgang mit Schwierigkeiten entwickelt?
• Organisation und Strategie: Wie verläuft die Planung? Wird eher kurzfristig oder langfristig und vorausschauend gedacht? Herrscht eher Chaos oder Ordnung?
• Stärken und Kompetenzen: Welche Stärken und Kompetenzen kann ich wahrnehmen und dies vielleicht sogar dann, wenn die Gruppe an der Aufgabe scheitert?
• Integration von Schwächeren/Außenseiter:innen/„Blinden“: Was wird konkret getan, um Schwächere und Außenseiter:innen zu integrieren?Werden diese angesprochen, um ihre Meinung gefragt, mit speziellen Aufgaben integriert?
• Lob: Wann wird wie gelobt? Wie trägt das zum Ergebnis bei?
• Rollenverteilung: Wer agiert aus welcher Rolle heraus (z. B. Moderatorenrolle, Führungsrolle, Rolle des Zeitmanagers, Rolle des Qualitätsmanagers, Rolle des Kritikers etc.)? Werden Rollen bewusst oder unwillkürlich verteilt?
• Prozessverlauf: Wendepunkte, Durchbrüche etc.
Wie bereits beschrieben, neigen unerfahrene Beobachter:innen häufig dazu, ihre eigenen Wahrnehmungen als gegebene objektive Meinung über die Gruppe zu „stülpen“, was dann zu Abwehrreaktionen der im Lernprojekt aktiven Teile der Gruppe führt. Wenn Beobachtende beim Mitteilen ihrer Wahrnehmungen allerdings auf einige wichtige Punkte achten, wird die Rückmeldung viel eher als hilf- und lehrreiche Information angenommen.
Beispielsweise sind Beobachtungen dann hilfreich für die Gruppe, wenn …
• konkretes Verhalten beschrieben wird. Statt: „Die ungestüme Frau Müller hat mal wieder nicht ruhighalten können.“ Besser: „Als Lisa moderierte, hat Erwin laut ‚Stopp!‘ gerufen und ist zwei Schritte zurückgegangen …“
• möglichst wenig interpretiert, sondern mehr beschrieben wird.
Statt: „Dieses Verhalten war unverschämt!“
Besser: „Dieses Verhalten hat bei der Gruppe folgende Reaktionen ausgelöst …“
• in Ich-Botschaften möglichst wertneutral beschrieben wird, was zu sehen und zu hören war, und erst dann folgt, wie diese Beobachtungen persönlich gewirkt haben.
Statt: „Wie können Sie den Kollegen nur so zurechtweisen?“ Besser: „Als Sie Ihrem Kollegen auf die Schulter geklopft haben und meinten: ‚Jetzt ist es aber gut!‘, hat er sich von Ihnen abgewendet. In meiner Wahrnehmung hat er sich zurechtgewiesen gefühlt.“
• mögliche positive Absichten der Verhaltensweisen der Akteur:innen genannt werden.
Statt: „ … und dann haben Sie alles zunichte gemacht.“
Besser: „Ihr Eingreifen hätten wir noch besser abstimmen müssen; denn ich vermute, Ihr Ziel an dieser Stelle war …“