Vom Zeltlager zum Blended Learning

Tower of Power & HeartSelling

Axel Rachow im Interview mit Tobias Voss

 

Tobias Voss: Axel, du bist vermutlich einer der Trainer in Deutschland, die mit am längsten mit „Interaktionen“ im Workshop- und Seminarkontext arbeiten: Wann hast du damit begonnen?

Axel Rachow: Das war so um 1977 …

 

Und wie sah das konkret aus?

Ich habe meine ersten Erfahrungen damit in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit als Leiter von Gruppen gesammelt. Das waren damals natürlich vom Charakter her eher klassische Gruppenspiele. Recht schnell habe ich dann dieses Wissen auch an andere Gruppenleiter weitergegeben – das war quasi meine erste Train-the-Trainer-Erfahrung. Einmal musste das Zeltlager-Team mit einer Schulung auf das große Sommerevent vorbereitet werden. Ich musste mir also überlegen, wie ich der Gruppe vermittle, was im Zeltlager passieren soll: Da ging es um rechtliche, aber auch um pädagogische Aspekte. Und plötzlich war ich mitten in der Bildungsarbeit, ohne jedoch das Gefühl zu haben, ein Dozent zu sein.

 

Wie hat dich diese Anfangszeit geprägt – wie kam es, dass Interaktionen und Spiele für deine heutige Arbeit so relevant sind?

Zu Beginn habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht. Der Mix aus Präsentations- und Interaktionselementen war von Anfang an da. Das gehörte einfach dazu, dass man zehn Minuten lang etwas präsentiert und dann im Anschluss mit der Gruppe ein Spiel veranstaltet, bei dem der Inhalt des Präsentierten noch einmal aus einer anderen Perspektive deutlich wird. Wir haben das damals aus dem Bauch heraus gemacht. Es hat einfach funktioniert und erschien uns deshalb sinnvoll. Heute kann ich das natürlich lerntheoretisch begründen. Und als dann auch noch die Neurowissenschaftler dazukamen und bestätigten: „So funktioniert es!“, erschloss sich diese Vorgehensweise noch viel mehr Trainerkolleginnen und -kollegen.

 

Ich habe in den 90er-Jahren in Unternehmen lange Zeit große Skepsis gegenüber dieser Herangehensweise erlebt. Das Thema Erfahrungslernen war für meine Kunden damals fremd. Ich erinnere mich an eine Reihe von Führungsnachwuchstrainings bei einer Bank: Als ich da mit einem Stuhlkreis ankam, war das für die Teilnehmer eine Art Kulturbruch. Nur das gute Feedback im Anschluss hat mich gerettet. Wie war das damals für dich?

Ich habe das damals genauso empfunden. Dann habe ich ein Buch geschrieben und dazu ein Seminar angeboten. Stell dir vor, fünf der zwölf Teilnehmer waren Redakteure von Fachzeitschriften! Alle sagten: „Wir müssen hin und gucken, was der Rachow da macht.“ Das zeigt, wie die Stimmung damals war. Einerseits waren die Trainer natürlich neugierig, aber andererseits war die Skepsis groß, denn kein Vorstand hätte jemals gesagt „Jetzt machen wir bei uns Workshops mit Spielen“. Die Frage war, wie wir diese Methoden in die Erwachsenenbildung hineinbekommen.

 

Ein spannender Moment war für mich das Jahr 2000, als man von US-Neurowissenschaftlern erstmals hörte: „Wir haben jetzt neurobiologisch bewiesen, dass Interaktionen für das Lernen unabdingbar sind.“ Damit war diese Erkenntnis auch für uns Deutsche zur Wirklichkeit geworden und es konnte ernsthaft losgehen. Wie hast du den darauffolgenden Wandel in der Trainingskultur erlebt?

Ich will jetzt nicht das Adjektiv „spielerisch“ verwenden, sondern lieber das Wort „Interaktion“ – ich habe damals erlebt, dass Interaktionen selbstverständlich wurden. Neben den Bewegungen, die von den METALOG® training tools ausgelöst wurden, gab es ja auch die Suggestopädie, die wie selbstverständlich mit diesen Methoden arbeitete. Und vonseiten der Unternehmen entwickelte sich dann eine Erwartungshaltung, die besagte: „Stellt euch bloß nicht da vorne hin und quatscht die ganze Zeit“ …

 

(Lacht) Gott sei Dank!

… „sondern kreiert irgendetwas, damit die Teilnehmer rausgehen und sagen ‚Wow, das war jetzt anders!‘“ Ich würde diesen Blick auf die Entwicklung sogar noch weiter – in die Zukunft – fortführen wollen: In Bezug auf Wissensinhalte kann man heute als Lernender fast alles googeln. Aber das direkte Erlebnis gibt’s eben nicht virtuell, im Internet. Das wird uns auch in Zukunft die Berechtigung und die Nachfrage geben, in der Präsenzsituation echte, intensive Begegnungen zu erschaffen, die online in dieser Weise nicht möglich sind.

 

Ich liebe die direkte Interaktion und denke, es geht dir da nicht anders. Angesichts Corona stellt sich jedoch die Frage, welche Rolle digitale Medien in Zukunft haben werden. Wie wird Lernen in der Zukunft aussehen? Welche neue Balance wird sich einstellen? Was macht der Markt – geht das in Richtung Blended Learning?

Das sind natürlich momentan wirklich sehr spannende Zeiten. Die aktuelle Situation erfordert, dass alles, was online möglich ist, auch online gemacht wird. Es geht einfach nicht anders. Ich glaube, viele Trainingsanbieter und Kunden testen gerade, was online möglich ist. Einige werden sagen: „Online ist ja schön und nett, aber es lässt sich überhaupt nicht mit dem echten Kontakt vergleichen. Bitte lasst uns bald wieder normal arbeiten.“ Andere werden sagen: „Das ist jetzt die Chance, deutlich zu machen, dass eben der Mix – also das Blended Learning – ganz gut ist.“ Darüber hinaus wird auch deutlich werden, dass sich manche Themen für bestimmte Zielgruppen digital viel besser abbilden lassen.

 

Da bin ich deiner Meinung! Ich glaube, in der aktuellen Situation wird besonders deutlich, was online möglich ist und was nicht. Wir bekommen ein geschärftes Bewusstsein für echte Lernbedürfnisse. Und in den USA sehen wir diesen Trend ja schon länger. Allerdings kann dort auch eine Rückwärtsbewegung beobachtet werden. Als ich im Februar als Aussteller bei der Training Conference in Orlando, Florida war, klagten mir viele Leute ihr Leid zu ihrer „Distance Learning“-Müdigkeit.

Den sozialen Bedürfnissen des menschlichen Wesens wird im Moment nicht genügend entsprochen. Der Drang, in Kontakt zu gehen, zu kommunizieren, ist ein Urbedürfnis. „Arbeit“ ist in Bezug auf diese Bedürfnisse in vielerlei Hinsicht sinnstiftend: Arbeit ermöglicht einerseits natürlich, Geld zu verdienen, aber andererseits auch, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Menschen brauchen das Erleben von Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Dasselbe gilt auch für das Lernen. Dieses Bedürfnis ist immer da – und es wird „nach Corona“ auch wieder gelebt und erfüllt werden wollen.

 

Lass uns über Arbeitsmethodik reden: Du hast ein Buch geschrieben, das eine Sammlung deiner Lieblingsfragen ist. Welche Rolle spielt aus deiner Sicht die Frage als Arbeitstechnik?

Fragen öffnen. Fragen helfen mir, herauszubekommen, was die Menschen wirklich bewegt. Fragen sind wichtig, um herauszubekommen, wie das Lernen gestaltet werden soll. Die Frage ist quasi der Startpunkt: Typischerweise sitzt da jemand vor mir, der irgendwelche Fragen im Kopf hat, auf die er Antworten sucht. Deswegen ist es auch essenziell, herauszufinden, wie diese Fragen lauten – um anschließend gemeinsam mit der Gruppe an den Antworten zu arbeiten. Die Fragen der Teilnehmer sind zu Beginn also ganz zentral.

 

Und wie werde ich deiner Ansicht nach ein guter Fragensteller? Diese Frage wird häufig in unseren Ausbildungen gestellt: Wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beispielsweise lösungsorientierte Fragen kennenlernen, werden sie ganz unruhig und wollen wissen, wie man diese am besten einsetzt. Wir sammeln dann meist in den Seminartagen alle lösungsorientierten Fragen, die auftauchen, an einer Pinnwand und stellen sie dann allen zur Verfügung.

Ich denke, Haltung und Methodik spielen dabei eine Rolle. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, mit Fragen zu arbeiten. Fragen zeigen das Interesse am anderen und an einer Lösung – das drückt meine Haltung aus. Der zweite Aspekt ist die Methodik, d. h. die Art und Weise, wie Fragen verpackt werden, wie man sie interessant machen kann.
Dein Beispiel geht ebenfalls in diese Richtung, denn mit deinem Vorgehen drückst du aus: „Deine Frage ist für mich wirklich wichtig. Schreib sie auf eine Karte.“ Sie wird noch wichtiger dadurch, dass sie dann an der Pinnwand hängt. Mir ist das einfache Aussprechen von Fragen zu wenig. Auch ich suche immer nach Formen, wie du sie gerade genannt hast, um den Fragen einen angemessenen Stellenwert zu geben – um auf diese Weise deutlich zu machen, dass diese Fragen Bedeutung haben!
In unserem Buch (Die Fragen-Kollektion: Was ist Ihre Lieblingsfrage? Einfache und raffinierte Fragen für Moderation und Training) haben wir sechs Stoßrichtungen für Fragen definiert. Ich möchte damit ein Bewusstsein dafür schaffen, dass jede Frage eine bestimmte Richtung hat. So kann eine Frage zum Beispiel nach hinten stoßen und sich danach erkundigen, welche Erfahrungen da gewesen sind. Stößt sie nach oben, eröffnet sie eine kreative Welt, in der jeder alles sagen kann. Stößt eine Frage jedoch nach vorne, auf ein Ergebnis hin, kann sie lösungsorientiert sein. Ich versuche also deutlich zu machen, dass Fragen eine Intention haben und immer nach einem Sinn suchen. Den gilt es herauszuarbeiten und zu beantworten. Es geht also um die Antwort auf die Frage hinter der Frage.

 

Und was denkst du über Fragen im Kontext von Interaktionen?

Bei einer Interaktion schlage ich die Brücke von meiner Meinung oder Perspektive zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und beziehen diese mit ein. Hier sind Fragen das ganz entscheidende Element, denn sonst bekomme ich die Brücke zu den Teilnehmenden gar nicht hin. Beispielsweise bekomme ich mit offenen Fragen einen Einblick in den Prozess, in das Lernen, in die Erweiterung von Blickwinkeln oder ich kann damit Anstöße geben.
So gesehen ist es unmöglich, ein METALOG® training tool einzusetzen, ohne eine Frage zu stellen. Zu Beginn brauchen wir ja den Sinn für den Einsatz des Tools. Konkret heißt das: Wozu genau wird dieses Tool an dieser Stelle eingesetzt? Weitergedacht wird natürlich deutlich, dass es bei einer Trainingssituation zwei Rollen im Raum gibt. Einerseits den Trainer, der das Tool mitgebracht hat, mit dem er eine Lernerfahrung ermöglichen möchte. Und auf der anderen Seite die Teilnehmer mit ihren Fragen, die natürlich nicht vom Trainer, sondern im Rahmen der Interaktion von den Teilnehmenden selbst beantwortet werden. Die Frage ist hierbei also das Instrument, um im Anschluss das Erlebnis zu verdichten.

 

Um in der systemischen Terminologie zu bleiben: Der Trainer schafft mit Fragen den Erfahrungsraum, in dem die Teilnehmenden sich ihre eigenen Fragen beantworten können.

Ja, genau!

 

Was sind deine Lieblingswerkzeuge unter den METALOG® training tools?

Immer noch und immer wieder der Tower of Power! Dieses Tool ist wirklich jedes Mal ein Spektakel. Es ist so unkompliziert. Es bietet mir zwei Aspekte, die ich für meine Arbeit brauche: Entweder ich wende es mal schnell nach der Mittagspause an, um mit der Gruppe wieder in den Prozess zu kommen. Dann werte ich das Ergebnis natürlich nicht aus. Oder aber ich nehme den Tower mit in einen Teamworkshop und mache daraus eine 90-Minuten-Einheit. Das Tool liefert mir einfach alles, was ich brauche. Mit einem Handgriff habe ich es ins Auto gepackt und ich brauche keine Vorbereitung dafür.
Daneben arbeite ich auch sehr gerne mit dem METALOG® Tool HeartSelling. Hier muss ich aber natürlich sehr viel mehr vorbereiten. Das haben wir beispielsweise bei einem großen Kunden international ausgerollt, das lief sehr gut.

 

Wie hast du HeartSelling eingesetzt?

Ich war dort in der Rolle des Trainingsdesigners und hatte vom Kunden ein Training bekommen, das in der alten Version vier Tage lang war – also einfach zu lang. Das Ziel war es, das Training zu kürzen, dabei aber die Inhalte zu belassen und ein Momentum zu kreieren, das bislang noch absolut unterrepräsentiert war: die Interaktion. Ich habe zur Lösung dieser Aufgabe einige Wissensspiele selbst kreiert, um die Inhalte des Kunden aktiver zu gestalten. Auf der anderen Seite habe ich nach etwas gesucht, das den Geist, die Erlebnisqualität und die Untiefen des Themas „Verhandeln und Verkaufen“ in möglichst kurzer Zeit sehr deutlich machen kann – und das war dann HeartSelling, das mir von einem Kollegen empfohlen wurde. Ich habe HeartSelling in das jetzt zweitägige Training ganz am Anfang eingebaut. Das ist ideal, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann leicht daran anknüpfen können. Die Rückmeldungen aus den verschiedenen Ländern dazu sind sehr gut.

 

Lass uns über dein Buch „Der Flipchart-Coach“ reden: Wie erklärst du dir das Phänomen, dass es momentan zu einem verstärkten Bewusstsein für und Bedürfnis nach Visualisierung kommt?

Wir merken, das Meetings in den letzten Jahren immer „bildschirmdominierter“ geworden sind – was für viele Fragestellungen auch super ist. Man kann zum Beispiel einfach eine Excel-Tabelle einblenden und Zahlen zeigen. Aber viele Leute merken auch, dass der Bildschirm für diverse andere Situationen nicht geeignet ist. Und dank der ganzen Design-Thinking-Bewegung ist auch klar geworden, dass die digitale Kommunikation zwar gut, aber erst der zweite Schritt ist. Der erste Schritt muss immer sein, etwas analog zu machen. Wir haben nach einem Jahr mit über 100 Veranstaltungen zum Thema Visualisieren festgestellt, das über die Hälfte unserer Kunden IT-Firmen waren! Hier drückt sich also eine Sehnsucht aus, begleitend zur Arbeit am Rechner etwas ganz „handmade“ zu machen.

 

Das ist wirklich interessant! Wir beobachten einen ähnlichen Trend: Wir haben vermehrt Kunden aus dem IT-Bereich, die Scrum einsetzen oder auf andere Weise agile Prozesse durchführen. Bei diesen Kunden wird dann in den Interaktionen häufig nach gegenständlichen Metaphern für agile Prozesse gesucht. Zum Beispiel arbeiten wir dann mit dem METALOG® Tool StackMan, weil man damit vieles einfach und ganz direkt abbilden kann.

Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Und beim Visualisieren an Flipchart und Pinnwand zu arbeiten bedeutet einfach Flexibilität! Sehr wichtig ist, dass auch die Dinge, die nicht linear sind, gut abgebildet werden können – das trägt häufig wesentlich zum Ergebnis bei.
Das digitale Arbeiten ist darüber hinaus nicht unbedingt sehr demokratisch. Derjenige, der den Rechner steuert, bestimmt einfach den nächsten Schritt. So gesehen bezieht die direkte Interaktion viel mehr alle Beteiligten im gleichen Maße mit ein! Und eine Moderation ist im eigentlichen Sinn demokratisch und jeder ist dabei gleichberechtigt.

 

Axel, ich danke dir sehr für dieses interessante Gespräch!