Alles zum Wohle der Patient:innen – Multiprofessionalität als Qualitätsmerkmal auch in der Psychiatrie

CultuRallye

Dr. Robert Rossa

 

Übersicht
Insbesondere die Arbeit auf einer psychiatrischen Station verlangt von den Menschen, die sich dort täglich um die Bedürfnisse der Patient:innen bemühen, ein hohes Maß an situativer Elastizität. Die unterschiedlichen Professionen sind hochqualifiziert und kommunizieren innerhalb ihrer eigenen Berufsgruppe fachlich, lösungsorientiert und eindeutig. Deutlich schwieriger sind hier berufsgruppenübergreifende Kommunikationsprozesse: Traditionsgeprägte Rollenverständnisse sowie Hierarchiedenken stehen dem Grundgedanken der Multiprofessionalität häufig im Weg und versperren einem konstruktiven, umfassenden „Mehrperspektivenblick“ die Sicht, der jedoch zum Verständnis einer komplexen Symptomatik notwendig ist. Nicht selten legen die einzelnen Berufsgruppen den Fokus stärker auf Abgrenzung denn auf die Überwindung bestehender Kommunikationsfallstricke. Dies hat ermüdende „Grabenkämpfe“ zur Folge, was in hohen Krankenständen und einem enormen Ressourcenverbrauch münden kann.
Ein renommiertes psychiatrisches Klinikum im Raum Hannover hatte auf die Initiative einer Oberärztin alle Mitarbeiter:innen einer Station eingeladen, an zwei Konzeptionstagen teilzunehmen. Dabei handelte es sich um Ärzt:innen, Psycho-, Physio-, Ergo-, Sprach-, Kunst- und Sporttherapeut:innen sowie alle Mitarbeiter:innen des Pflege- und Erziehungsdienstes. Hauptziel war, gemeinsam ein zukunftsorientiertes Behandlungskonzept zu entwickeln. Daneben sollten gruppendynamische Interaktionen durchgeführt werden, die die Kommunikationsbereitschaft der Teilnehmenden fördern, das „Wir-Gefühl“ stärken und bestehende Vorbehalte lösen.
Die Organisation, Planung und Wahl des passenden Tools begann mit zwei Hospitationstagen, um einen Einblick in Aufgaben, Tätigkeitsschwerpunkte, Abläufe und Kommunikationsstrukturen zu erhalten. Dies waren wichtige Informationen für die Inszenierung und Durchführung des Lernprojekts, für mögliche Interventionen sowie die Auswertung. Eine besondere Herausforderung stellten bestehende Widerstände einzelner Mitarbeiter:innen unterschiedlicher Berufsgruppen dar, auf die in der abschließenden Auswertung Bezug genommen werden sollte.

 

Thema
Thematischer Schwerpunkt des Lernprojekts CultuRallye bestand in der Sensibilisierung für die inter- und intrapersonellen Wirkmechanismen, für Verhaltens- und Rollennormen berufsgruppeninterner Kommunikation und für die damit verbundenen Verhaltensweisen. Darüber hinaus ging es darum, jede:n einzelnen Mitarbeitende:n und die jeweiligen Professionen zu einem Denken „out of the box“ zu motivieren. Das gemeinsame Ziel sollte herausgearbeitet und etabliert werden.

 

Inszenierung
a. Vorbereitung
Für jede der Berufsgruppen konnte ein separater Arbeitsraum vorbereitet werden. Das Augenmerk bei der Ausstattung der einzelnen Räume lag neben Tisch und Stühlen auf professionstypischen Accessoires wie einem Stethoskop und Fachliteratur für die Ärzt:innen oder Farben und Pinseln für die Kunsttherapeut:innen. Die Räume wurden passend zur Berufsgruppe beschildert, z. B. Stationszimmer oder Physiotherapie-Abteilung. Ziel war es, auf diese Weise die berufsgruppenspezifische Identifikation mit der Aufgabe, den Rollen und Sprachmustern zu aktivieren.

 

Übertragung in die echte Welt

Elemente im LernprojektElemente in der echten Welt
ArbeitsräumeAktivierung rollen- und berufsbezogene Kommunikation
ChipsLeistungsbezug im Arbeitskontext
Gefüllter Becherindividueller Erfolg vor Gesamtergebnis
Leerer BecherHinweis auf fehlende Einbindung in den Gesamtprozess
Unterschiedliche Regelnstehen für die berufstypischen Sozialisationen, Erwartungen und Identifikation
Symbolwürfel/ZahlenwürfelRegeln und Normen/Auswirkungen
Nonverbalrepräsentiert sowohl die Kommunikationshierarchie als auch
das Machtgefüge
Wechselnde Teilnehmerwechselnde Anforderungen und wechselnde
Arbeitskonstellationen; Arbeit im Schichtbetrieb

 

b. Durchführung
„Liebe Teilnehmer:innen, wir freuen uns, euch heute hier empfangen und begrüßen zu dürfen. Bevor wir inhaltlich in die gemeinsame Konzeptionsplanung starten, möchten wir euch herzlich zum ersten Lernprojekt einladen. Nachdem ihr euch bereits mit einer Tasse Kaffee und einem leckeren Brötchen stärken konntet, seid ihr sicher gespannt und neugierig, was euch erwartet. Findet euch bitte jetzt in euren Berufsgruppen zusammen und schaut mal, ob ihr den für euch vorgesehenen Arbeitsraum hier auf dem Flur findet. Sobald ihr das geschafft habt, erhaltet ihr weitere Informationen für die anstehende Aufgabe.“
Das Setting für die Teilnehmer:innen in allen Arbeitsräumen war, dass sie am Ende ihres Arbeitstages die noch verbleibende Zeit nutzen würden, um sich auszutauschen und ein gerade sehr angesagtes Spiel zu spielen. „Die Regeln sind denkbar einfach. Man benötigt nur zwei Würfel. Jede:r bekommt außerdem einige Chips, damit wir am Ende einen Sieger, eine Siegerin küren können.“
Nach der Eingewöhnungsphase wurden die Regelblätter mit dem Hinweis eingesammelt, dass von nun an bis zur Beendigung der Aufgabe nicht mehr gesprochen werden dürfe. In regelmäßigen Zeitabständen von zehn Minuten würden einzelne Spieler:innen nach unterschiedlichen Kriterien von der eigenen Berufsgruppe in eine andere wechseln. Wechseln dürfe nur, wer bisher noch nicht getauscht hatte.
Nach insgesamt 4 Arbeitsphasen wurden die einzelnen Berufsgruppen wieder zusammengeführt, jetzt allerdings in einem Raum einer fremden Profession. Solchermaßen wurde noch eine dreiminütige Blitzrunde gespielt, bevor sich alle Teilnehmenden wieder sprechend im allgemeinen Gruppenraum versammelten.

 

c. Verlauf
Das Lernprojekt CultuRallye wurde in den einzelnen Berufsgruppen zunächst spontan und leicht aufgenommen. Die Teilnehmenden zeigten, insbesondere bis zum ersten Wechsel, eine hohe Regelakzeptanz sowie Spaß und Vergnügen am Spiel.
Im weiteren Verlauf kam es mit den Wechseln zunehmend zu emotionalen Reaktionen wie Spaßverlust, Trotz, Wut und Verweigerung, die aufgrund des Sprechverbots und bisweilen auch mangelnder Motivation vorerst nicht aufgelöst wurden. Die Teilnehmenden beschrieben, dass der Wechsel ihnen schwergefallen sei, da sie die eigene Gruppe nicht hätten verlassen wollen und sie sich in der neuen Berufsgruppe auch nicht willkommen gefühlt hätten. Die scheinbar neuen Regeln habe ihnen niemand erklären wollen, was dann letztendlich zu einer inneren Reaktanz und Verweigerung geführt habe. Nur Schritt für Schritt, mit jedem weiteren Wechsel, habe sich dieses Gefühl etwas gebessert und darin gemündet, dass die Blitzrunde zum Schluss wieder Spaß gemacht habe.
In der Abfrage der Regeln der Blitzrunde zeigte sich, dass sechs von acht Berufsgruppen, obwohl sie wieder in der ersten Zusammensetzung ihrer eigenen Berufsgruppe waren, nicht nach den ursprünglichen Regeln spielten, sondern nach den Regeln, die in diesem Raum gespielt wurden.

 

Reflexion
Überaus ergiebig und zielführend konnte anhand der Erfahrungen erarbeitet werden, inwieweit sich das gezeigte Verhalten auch auf den Stationsalltag und damit auf einen mehrperspektivischen, multiprofessionellen Blick auf die Patient:innen, die Symptomatiken und die Behandlungen übertragen lässt. Aus der noch sehr präsenten eigenen Erfahrung heraus konnten die Teilnehmer:innen Lösungsvorschläge und Kommunikationsabläufe entwickeln, die im beruflichen Kontext hilfreich sein könnten, um vorbehaltloser und produktiver miteinander umzugehen. Es konnte über konkrete, gemeinsam erlebte Situationen, die ebenfalls von unterschiedlichen Erwartungshaltungen geprägt gewesen waren, gesprochen und so eine zielführende Klärung initiiert werden. Die auf das Lernprojekt folgende Pause wurde von den Teilnehmenden intensiv und angeregt genutzt, um sich über die Erfahrungen auszutauschen.

 

Fazit
Mit diesem Tool wurde es möglich, auf Basis persönlicher Erfahrungen zu verstehen, dass unterschiedliche Berufsgruppen verschiedene Regeln und Normen haben können und dass die eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche nicht denen der Kolleg:innen entsprechen müssen. So wurde es möglich, gemeinsam Lösungsmöglichkeiten für den Berufsalltag zu entwickeln und sich dabei auf Augenhöhe zu begegnen.