Zivilcourage! Helfen? Wegschauen? – Schüler:innen entwickeln Handlungskompetenzen für das „echte Leben“

Complexity

Martin Küpfer, Carsten Pohl

 

Überblick
Als Fachkräfte für Gewaltprävention sind wir in den Kantonen Solothurn und Bern an Schulen tätig. Wir bieten verschiedene Bausteine der Gewaltprävention und Intervention an. Dabei arbeiten wir vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe und auch in Berufsschulen. Für die Lehrpersonen und Pädagog:innen führen wir verschiedene Weiterbildungen durch.
Meist besuchen wir Schulklassen ein- bis zweimal pro Jahr und arbeiten dann eine Doppellektion mit allen Schülerinnen und Schülern (SuS) in Anwesenheit der Klassenlehrkräfte. Die Doppellektion „Zivilcourage“ führen wir in der 7./8. Klasse durch.

 

Thema
Häufig finden wir folgende Ausgangslage vor: Der Begriff „Zivilcourage“ wird oft mit „Helfen in öffentlichen Gewaltsituationen“ verbunden. Konkretes Eingreifen überfordert jedoch schnell und man ist froh, wenn man nie in eine solche Situation kommt. Doch was, wenn doch? Was geschieht, wenn sich eine Schulklasse, zusammen, in einem ungewohnten Umfeld wiederfindet? Rasches Handeln, Courage (Mut), hilfreiche Ideen und kooperatives Vorgehen sind gefordert.
Wir möchten Zivilcourage thematisieren und erfahrbar(er) machen. Auf sich selbst hören und sich mutig in der Situation und für die von Gewalt betroffenen Menschen einzusetzen, dieses Ziel möchten wir stärken. Dazu erzeugen wir bei den Teilnehmenden Emotionen durch erfahrungsorientiertes Lernen mit dem Tool Complexity.
Die vorher erarbeiteten alltagsnahen Situationen werden dabei unter Zeitdruck erprobt und die gemachten Erfahrungen für den Alltag und das eigene Leben hin reflektiert, erweitert und gefestigt. Die SuS sollen sich handelnd erleben, ihre Zuversicht ins eigene Handeln stärken und ihre Handlungskompetenz erweitern können.

 

Inszenierung
Als Einstieg werden den SuS Gewaltsituationen in Form von Bildkarten präsentiert. Zu sehen sind Situationen aus dem Schulalltag: Beispielsweise wird jemand auf dem Schulweg verprügelt, werden rassistische Sprüche gemacht, werden bei einem Fahrrad die Bremsen losgeschraubt, wird eine WhatsApp-Gruppe „Loser XY muss weg“ eingerichtet, herrscht Vandalismus auf dem WC oder liegen die Hefte von einem Schüler zerrissen auf seinem Platz …
„Was habe ich schon erlebt, was habe ich schon beobachtet?“ und: „Was geht gar nicht?“ lauten die Einstiegsfragen. Jede:r kann so entscheiden, was er oder sie sagen will – und vor allem: Wie persönlich die eigene Aussage sein soll. Dann werden kurz Begrifflichkeiten und Hintergründe zum Thema Zivilcourage beleuchtet und aufgegriffen. Dabei kommt es unweigerlich zur Thematik:
• Warum helfen 2/3 der Menschen nicht, wenn es darauf ankommt?
• Was braucht es, um auch in einer solchen herausfordernden Situation auf sein Bauchgefühl zu hören und handlungsfähig zu bleiben?

Anhand von Beispielsituationen kommen wir mit den SuS in den Austausch und fragen nach: „Wie hättest du gehandelt?“, „Was siehst du für Handlungsmöglichkeiten?“
Es geht also darum, in Aktion zu kommen und die erlernten Strategien und Verhaltensweisen zu erproben: das Opfer ansprechen, ob es Hilfe benötigt; sich mit umstehenden Personen vernetzen und gemeinsam handeln; die Polizei rufen; eine zuständige Person (z. B. Busfahrer:in) informieren. Dabei dürfen Fehler passieren und es geht darum, einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Im Zentrum stehen Vernetzung, Handlungsstrategien und gemeinsame Fehlerkultur. Folgende Punkte werden dabei mit den Schüler:innen erarbeitet:
1. Rasches Handeln ist nötig, damit die Situation nicht noch mehr eskaliert und das Opfer Hilfe bekommt.
2. Absprachen und gegenseitige Unterstützung helfen, gefahrlos und effizient die Situation zu meistern. Beispiel: Drei Personen gehen dem Opfer helfen, eine vierte Person behält den Täter im Auge, auch wenn dieser weggeht, eine fünfte Person ruft die Polizei.

 

a. Vorbereitung
In einem zweiten Raum wird das Tool Complexity ausgelegt (in der Turnhalle benutzen wir große Matten und Schwedenkästen als Sichtschutz). Das erhöht die Spannung und schafft bei der Durchführung durch die räumliche Trennung mehr Klarheit der Bereiche.

 

b. Durchführung
Die Klasse wird in folgendes Szenario eingeführt: „Am Anfang der Stunde haben wir mit den Karten festgestellt, dass ihr fast alle schon einmal in Situationen wart, in denen ihr euch nicht mehr wohlgefühlt habt und vielleicht sogar Angst hattet. In der nächsten Übung könnt ihr die vorhin gefundenen Handlungsmöglichkeiten wie z. B. das Opfer ansprechen, sich vernetzen und gemeinsam handeln, die Polizei rufen oder den Busfahrer oder die Busfahrerin informieren, anwenden. Zentral für den Erfolg sind rasches Handeln, gute Absprachen und gegenseitige Unterstützung, wie wir vorhin herausgefunden hatten.
Hinter dieser Tür/den Matten findet ihr eine ‚heikle Situation‘ vor, die gemeinsames, rasches und vielleicht sogar mutiges Handeln erfordert. Die ‚heikle Situation‘ wird durch den Seilkreis symbolisiert. Um die Situation zu entschärfen, müssen die darin befindlichen Nummern von 1 bis 30 in aufsteigender Reihenfolge und in möglichst kurzer Zeit berührt werden. Folgende Punkte sind dabei zu beachten:
• Hier, im Außenbereich, ist Reden und Planen erlaubt.
• Sobald die erste Person den Raum (die ‚heikle Situation‘) betritt, darf nicht mehr gesprochen werden.
• Die ‚heikle Situation‘ darf jeweils nur von einer Person betreten werden.

Jede falsche Handlung führt zum sofortigen Abbruch der ‚heiklen Situation‘, nämlich
• falsche Reihenfolge,
• Reden,
• zwei Personen befinden sich gleichzeitig in der ‚heiklen Situation‘.

Wir werden jetzt gemeinsam für 30 Sekunden die ‚heikle Situation‘ besichtigen. Dies geschieht stumm. Bitte tretet auf nichts, was am Boden liegt. Bei 0 stehen wir alle wieder hier vor der Tür. Und los.“

 

c. Verlauf
Die Schüler haben jetzt eine Vorstellung davon, was bei der Übung auf sie zukommt. Viele sind erst einmal erleichtert, dass es nichts wirklich „Schlimmes“ auf sie wartet.
Kaum ist die Klasse wieder vor der Tür im Besprechungsbereich, fangen die Ideen an, zu sprudeln. Fast immer sind im eifrigen Aushandlungsprozess folgende Sätze zu hören: „Passt auf, wir machen das so …“, „Lasst uns eine Reihenfolge bilden …“, „Hä? Welche Nummer habe ich?“
Dann startet der erste Versuch. Mit viel Dynamik und permanenten Optimierungen im Ablauf lernt die Gruppe bei jedem Versuch dazu. Natürlich tauchen auch Durststrecken und Frustration auf, die aber jeweils von der Gruppe aufgefangen werden. Endlich schafft es die Gruppe und die konzentrierte Stimmung schlägt in Jubel, Heiterkeit und Leichtigkeit um.

 

Übertragung in die echte Welt

Elemente im LernprojektElemente in der echten Welt
„Heikle Situation“ (Seilkreis)die akute Situation wie z. B. Notfall, Gewalt
Zahlen/Reihenfolgerichtige Handlungsabfolge
1. Situation einschätzen
2. Umstehende Personen einbeziehen
3. Gemeinsam handeln
ZeitvorgabeDringlichkeit
Außenbereichvon außen Hilfe holen, sich absprechen

 

Reflexion
Die Leitfragen der Reflexion sind folgende:
• Was waren die Herausforderungen in dieser Übung?
• Wie seid ihr mit dem Zeitdruck umgegangen?
• Wie habt ihr euch abgesprochen?
• Was ist euch selbst und/oder der Gruppe gut gelungen?
• Was war besser als erwartet?
• Was von der Übung und dem Thema könnt ihr weiterhin (in eurem Schulalltag) nutzen?

Bei dieser Frage kommen den Schülerinnen und Schülern oftmals viele Anwendungsmöglichkeiten in den Sinn:
• Streit auf dem Schulweg/Pausenplatz
• Ältere Schüler, die jüngere Schüler einschüchtern oder verprügeln
• Gerüchte verbreiten
• Rassismus
• Gefilmt werden, ohne dass man es möchte
• Ausgrenzung, Mobbing, Cybermobbing

Tatsächlich sind wir immer wieder überrascht und berührt, wie persönlich und ehrlich die SuS sich äußern und wie engagiert sie sich einbringen und mitmachen.

 

Fazit
Die Schüler haben sich mit den thematischen Grundlagen von Zivilcourage auseinandergesetzt und wissen, dass man (auch gesetzlich) aufgefordert ist, anderen zu helfen. Dies aber immer mit der Betonung, dass man sich nicht selbst gefährden muss. Darum ist es so zentral, dass man einfache und nützliche Handlungsstrategiegen erproben kann und erfährt, dass diese gar nicht so schwer anzuwenden sind und wirklich auch funktionieren. Dies ist oft auch die Rückmeldung der anwesenden Lehrpersonen.
Die meisten Klassen lieben das Tool Complexity. Manchmal ist der Start etwas zögerlich, aber plötzlich nimmt dann die Dynamik zu und alle sind in einer konzentrierten Spannung.
Durch Complexity wird nicht nur die gesamte Klasse bestärkt, zusammen zu handeln und aufeinander zu schauen, sondern es geht auch um Themen wie Scheitern, Frustrationstoleranz, Durchhaltewillen und gemeinsamen Erfolg.