Jörg Köhler
Überblick
Die Schüler:innen der Oberstufe der Integrierten Gesamtschule in Nieder-Olm werden jedes Jahr im Januar in der Themenwoche darauf vorbereitet, dass nach der Schule, nach dem Abitur die Suche nach einem geeigneten Studium oder dem passenden Beruf ansteht. In dieser Themenwoche besuchen die Schüler:innen aus den zwölften Klassen die Universität in Mainz, sie werden von verschiedenen (Groß-)Betrieben besucht oder fahren selbst im Klassenverband dorthin und haben Kontakt zum Berufsberater oder Berufsberaterin, der:die von der Agentur für Arbeit an die Schule kommt.
Thema
Damit die Schüler:innen eine ganz konkrete Form des „Sich-Ausprobierens“ kennenlernen können, findet im Rahmen der Themenwoche ein Assessment-Center statt. Dazu besuchen alle Stammkurse mich als Organisator, Trainer und Rückmelder in einem vorbereiteten Klassensaal. Alles ist so dargestellt, dass die Teilnehmer:innen das Gefühl haben, sich auf eine Ausbildungsstelle beworben zu haben, die sie nun auch ergattern möchten.
Inszenierung
a. Vorbereitung
Zur Inszenierung gehört es, dass ich der Geschäftsführer der Firma TAS-Electronic (Technic, Alarm Security) bin und drei Ausbildungsstellen für etwa 20 Bewerber:innen habe. Der:Die Klassenlehrer:in ist in der Regel im Assessment-Center mit dabei und übernimmt in der Inszenierung die Rolle der Co-Geschäftsleitung. Den Klassensaal habe ich im Vorfeld so vorbereitet, dass die vier Tools aufgebaut sind und direkt genutzt werden können. Ich habe einen Stuhlkreis gestellt, sodass zum Stundenbeginn alle Schüler:innen sich direkt einen Platz im Assessment-Center aussuchen und einnehmen können. An der Tafel im Raum und an einem Flipchart hängen Infoplakate der fiktiven Firma „TAS-Electronic“. Auf einem Tisch liegen für alle sichtbar und erkennbar etwa 20 Ordner mit Bewerbungen, sodass die Ernsthaftigkeit des Assessment-Centers unterstrichen wird.
Ich erkläre allen anwesenden „Bewerber:innen“ das Vorgehen in einem Assessment-Center. Dass mein eigener Sohn auf seiner damaligen Ausbildungsplatzsuche selbst mehrere Assessment-Center durchlaufen hat, betone ich hier immer. Es wird darum gehen, sich so positiv wie möglich zu verkaufen, um eine der drei Ausbildungsstellen zu bekommen, für die es – wie ja alle sehen können – etwa 20 Bewerber:innen gibt.
b. Durchführung
Nach kurzer erklärender Einführung schicke ich alle Teilnehmer:innen nochmals aus dem Klassenzimmer hinaus und ziehe mich dann um. Zunächst bin ich vor den Schüler:innen so aufgetreten, wie man mich kennt: meist in Jeans, Turnschuhen und Kapuzenpulli. Nun „verkleide“ ich mich mit Hemd, Sakko, Lederschuhen. Wenn die Schüler:innen wieder den Klassensaal betreten, bin ich für sie nun noch wirklicher der Geschäftsführer von „TAS-Electronic“. So kennen mich die 12er nicht und sofort wird eine andere Intensität hergestellt. Ich spreche ab dem Wiederbetreten des Raums alle nur noch mit „Sie“ an und bleibe für die nächste Zeit in meinem Agieren und Auftreten der Geschäftsführer, bei dem man sich beworben hat.
SysTeam
Nach meiner Begrüßung in der Rolle des TAS-Geschäftsführers bitte ich alle, sich zu erheben. Zwei Schüler:innen bitte ich, das SysTeam in der Mitte des Stehkreises aufzustellen, und erkläre direkt, dass der Wackeltisch symbolisch dafür steht, dass unterschiedliche Menschen aus und mit verschiedenen Kulturen, Alter, Geschlechtern und Charaktereigenschaften in meiner Firma mitarbeiten. Allein das Hinstellen des Tisches ist schon eine Herausforderung für die zufällig Ausgewählten. In die Mitte der Tischplatte lege ich eine kreisförmige TAS-Ablage. Dies ist eine Tabu-Zone, in die keine Figuren gestellt werden dürfen.
Alle 20 Bewerber stellen nun ihr Holzteil auf die Tischplatte und stellen sich und ihre Stärken verbal vor. Ich betone, dass immer Ungleichgewichte entstehen können, dass es immer verschiedene Ideen und Vorgehensweisen gibt – es aber letztendlich darauf ankommt, dass man miteinander und auch ganz persönlich darauf achtet, dass immer das notwendige Gleichgewicht hergestellt und erhalten wird. Jede:r in der Firma „TAS-Electronic“ ist wichtig und verantwortlich.
Je nach Verlauf des Ganzen kann ich auch mit einer Augenbinde und dem „Blindmachen“ einer Person die inklusive Idee in unserer Firma betonen. Der „blinden“ Person zu helfen und deren Agieren sind wichtige Faktoren für spätere Rückmeldungen für mich und auch alle Teilnehmer:innen.
TeamNavigator
Der TeamNavigator ist mit einem von mir aufgezeichneten Weg vorbereitet worden. Alle Teilnehmer:innen nehmen eine Schnur in die Hand und die Aufgabe lautet, den Weg gemeinsam zu gehen. Wie in der Firma „TAS-Electronic“ geht es darum, dass der vorgegebene Weg von allen gemeinsam beschritten werden muss, um eine Kundenanfrage zu bedienen und für Kundenzufriedenheit zu sorgen. Alle gemeinsam sorgen dafür, dass mit geeigneter Kommunikation und mit Teamwork Ziele erreicht und umgesetzt werden.
Alle Schüler:innen bewegen sich auf dem vorgezeichneten Weg und an drei aufgezeichneten Punkten beantwortet jede:r nacheinander die gestellten Fragen: Worauf bin ich persönlich in meinem bisherigen Leben total stolz? Warum bin ich genau der:die Richtige für „TAS-Electronic“? Ein Riesentalent von mir ist …
Letztendlich wird der aufgezeichnete Weg gemeinsam gegangen und ich als Geschäftsführer weise regelmäßig auf die nötige Zusammenarbeit aller Beteiligten hin. Es kann sein, dass ich von außen das Vorgehen noch verschärfe, indem ich Zeitdruck aufbaue oder auch jede verbale Kommunikation verbiete oder Vorgaben für eine bestimmte Kommunikation mache.
Team²
Um den vorbereiteten Tisch mit den zehn Feldern für das Team² setzen sich zehn Freiwillige, „spielen“ direkt mit und erfüllen die Übungsaufgabe. Alle anderen Bewerber:innen werden mit Extraaufgaben versehen, denn alle sollen eine Aufgabe haben. So achtet eine Person auf die Einhaltung der Regeln, eine andere passt auf die allgemeine Kommunikation in der Gruppe auf. Weiterhin gibt es eine:n Aufpasser:in, der:die Regelbrüche notiert. Schließlich werden Bewerber:innen bestimmt, die auf bestimmte Mitspieler:innen aufpassen und diesen dann nach der Übung eine Rückmeldung geben.
Von außen kann ich spontan Störendes einbauen, indem ich die hochkonzentriert Agierenden irgendetwas frage, oder ich baue Zeitdruck ein,
Übertragung in die echte Welt (SysTeam)
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
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Bistro-(Wackel-)Tisch | Firma „TAS-Electronic“ mit ihrer Vielseitigkeit an Mitarbeitenden |
Holzfiguren | einzelne Bewerber:innen und/oder Mitarbeiter:innen; unterschiedliche Auftragslagen |
Augenbinde | behinderte Mitarbeitende |
Übertragung in die echte Welt (TeamNavigator)
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
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Aufgezeichneter Weg | unterschiedliche Aufträge, die in konstruktiver Teamarbeit erledigt werden |
Schnüre | Arbeitsmittel, Handwerkszeug |
Haltepunkte mit Fragen | Zwischenschritte, Reflexionsphasen innerhalb des Betriebs |
bewerte bisherige Erfolge oder ich rufe Einzelne mit ihrem Namen auf, mit dem Ziel, die Belastbarkeit, eine vorhandene Coolness oder auch Stressfaktoren erkennen zu lassen.
StackMan
Als Geschäftsführer von „TAS-Electronic“ erhalte ich den Auftrag, in der Frankfurter Festhalle die Bühne für eine Linkin-Park-Konzert aufzubauen. Fünf Bewerber:innen sollen sich als Mitarbeitende der Firma beweisen und erhalten die Aufgabe, in einer Art Generalprobe mit den Hölzern des StackMan die gewünschte Bühne für Linkin Park aufzubauen.
Nun übernehmen fünf Bewerber:innen, die bei Team² nicht aktiv am Tisch dabei waren, den Bühnenaufbau. Auch hier kann ich als Geschäftsführer spontan Zusatzaufgaben vorgeben und weitere Teilnehmer:innen bestimmen. Und auch hier werden im Anschluss an die Übung Rückmeldungen gegeben.
Ich kann bei dieser Übung wieder mit Zeitvorgaben und/oder Störungen der Bühnenbauer:innen einwirken und Verschärfungen einbauen. Es geht darum, erkennen zu lassen, dass man unter Stress anders als gewohnt (re)agiert, und dieses neue Verhalten benennen und reflektieren zu lassen.
Übertragung in die echte Welt (Team²)
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
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Einzelne Figuren | unterschiedliche Auftragslagen, Probleme innerhalb der Auftragserfüllung |
Legezonen | klar abgesprochene und einzuhaltende Arbeitsbereiche und Kundenerwartungen |
Störer | Probleme im normalen Arbeitsalltag |
Übertragung in die echte Welt (StackMan)
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
---|---|
Holzteile | zu verwendendes Arbeitsmaterial |
Lösungsblatt | Beschreibung der Arbeitsvorgänge |
Sanduhr | Zeitdruck |
Reflexion
Wenn alle Schüler:innen – die Bewerber:innen um die drei Ausbildungsstellen – wieder im Stuhlkreis sitzen, wird das Assessment-Center gemeinsam reflektiert. Die einzelnen Aufgaben werden nochmals besprochen und das Gelingen bzw. das Misslingen wird analysiert. Hier wird gezielt auf das Agieren der Schüler:innen eingegangen. Ich als Geschäftsführer und die Co-Geschäftsleitung geben wertvolle Rückmeldungen über das beobachtete Verhalten der Schüler:innen.
Es werden auch Fragen an die anderen Bewerber:innen gestellt, sodass ein gegenseitiges Feedback erfolgt. Immer ist es in dieser Phase wichtig, dass die Ernsthaftigkeit erhalten bleibt. Dieses Beenden des Assessment-Centers mit den ausgesprochenen Rückmeldungen ist wichtig für den Lernerfolg aller Teilnehmer:innen.
Ich frage ganz allgemein, wer glaubt, sich bei den Aufgaben gut eingebracht zu haben, und wer davon ausgeht, die Ausbildungsstelle zu erhalten. In allen Äußerungen der Teilnehmer:innen geht es immer darum, dass die eigene Meinung und Einschätzung auch erklärt und begründet wird.
Nach wie vor ist das zentrale Thema, dass „TAS-Electronic“ drei Azubis einstellen wird und das Geschehene wird darauf bezogen reflektiert. Wir Erwachsenen lassen die Bewerber:innen sich erklären und geben dann in unserer speziellen Rolle immer auch eine Rückmeldung zu ihrem Verhalten.
Fazit
Als Schule machen wir seit vielen Jahren immer wieder die Beobachtung, dass die Schüler:innen das Assessment-Center als wertvolle Erfahrung mitnehmen. Die Rückmeldungen der Schüler:innen waren bisher ausschließlich positiv, denn das Erlebnis des Interagierens in einer Gruppe und die Rückmeldungen der Geschäftsführung werden hoch bewertet. Im Schulprofil ist das Assessment-Center in der Themenwoche der 12er fest verankert und bildet für viele Teilnehmer:innen einen Höhepunkt der Woche.
Als Integrierte Gesamtschule verfügen wir über ein im Schulprofil verankertes EP(Erlebnispädagogik) und EOL(ErfahrungsOrientiertes Lernen)- Konzept. Wir besitzen eine große Anzahl an METALOG® training tools und können diese Tools im Unterricht immer wieder verschieden inszeniert einsetzen. Die Schüler:innen kennen im Assessment-Center das ein oder andere Tool bereits aus früheren Schuljahren in anderen Zusammenhängen. Daher kommt es auf eine neue Inszenierung an, wenn Tools zum wiederholten Mal eingebracht werden. Die Inszenierung der Ausbildungsplatzsuche bei der Firma „TAS-Electronic“ und das Verkleiden als Geschäftsführer und das ständige Agieren als solcher unterstützen den Erfolg dieser Maßnahme.
Mittlerweile kommt es schon vor, dass das Ganze auch als Fortbildung angefragt wird und es gibt immer wieder auch Hospitationen mit interessierten Kolleg:innen aus anderen Klassen und Schulen.
In vorher erfolgter Rücksprache mit den Klassenlehrer:innen kann ich das Verhalten einzelner Schüler:innen, die dann ja zu Bewerber:innen werden, erfragen, um besser vorbereitet zu sein. Je nach Klasse und Grundsituation bieten sich auch andere Tools zur Verwendung in der Assessment-Center-Inszenierung an.