Rüdiger Sweere
Überblick
Zu meinen regelmäßigen Aufgaben bei der Katholischen Jugendagentur Bonn gGmbH gehört es, Kirchengemeinden oder Seelsorgebereiche bei der Konzeptentwicklung, Neuplanung und/oder der Neuausrichtung jugendpastoraler Angebote weiterzuhelfen. Als externer Berater begleite ich dabei ehrenamtliche Gremien, bei denen sich die Mehrzahl der Mitglieder meist schon seit vielen Jahren kennt. Dementsprechend festgefahren sind hier häufig die unterschiedlichen Rollen der Mitglieder und deren Herangehensweisen an Fragestellungen. Auch die üblichen hierarchischen Strukturen innerhalb der Kirchengemeinden müssen im Prozess berücksichtigt werden. Die Begleitung dieser Gruppen geht in der Regel über vier bis sechs Abend- und Wochenendtermine, wobei die Gruppenstärke meist zwischen fünf und zwölf Personen schwankt.
Inszenierung
a. Vorbereitung
Der Raum, in dem ich arbeite, ist so vorbereitet, dass das Tool, mit einem großen Tuch abgedeckt, bereits in der Mitte des Raums liegt, wenn die ersten Teilnehmer:innen eintreffen. Der verdeckte Gegenstand erzeugt von Beginn an einen Spannungsbogen, der die Teilnehmenden auf den Hauptteil – eben das Tool – fokussiert. Ich nutze diesen Spannungsbogen als Teil meiner Inszenierung: Zu Beginn weiß keiner, was genau kommen oder passieren wird. Ein weiterer Nebeneffekt ist, dass es nicht zu einer Umbaupause kommt und ich in dem Moment, in dem ich das Tuch entferne, direkt mit der Übung starten kann.
b. Durchführung
Bei der Inszenierung zu PerspActive lade ich die Teilnehmer:innen ein, sich vorzustellen, wie die Kirche das Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod begleitet – sprichwörtlich „von der Wiege bis zur Bahre“. Für die Begleitung der unterschiedlichen Lebensphasen eines Menschen sind meist unterschiedliche Gremien und Mitarbeiter:innen aus dem Pastoralteam verantwortlich bzw. zuständig.
Nun zeige ich den Teilnehmenden die PerspActive-Kugel und sage: „Stellt euch vor, das hier ist die kleine Anna. Sie ist gerade in unsere Gemeinde aufgenommen worden. Mit ihrer Mutter besucht sie die Krabbelgruppe und steht ganz am Anfang eines langen Lebens in und mit unserer Gemeinde. Wir wollen jetzt einmal spielerisch das Leben von Anna in und mit unserer Gemeinde nachstellen.“
Ich entferne das Tuch, das das Tool bislang verdeckt hat, und bitte die Teilnehmenden, sich jeweils ein Schnurende zu nehmen. Die Schnurenden sind nicht geordnet, sodass sich die Teilnehmer nun zunächst als Gruppe sortieren müssen, damit die Schüre nicht über Kreuz liegen.
Um mit der gemeinsamen Gruppenaufgabe starten zu können, ist es wichtig, dass die Öffnung von PerspActive nach oben zeigt. Mit der korrekten Ausrichtung des Tools müssen sich die Teilnehmer:innen also in der Regel ein zweites Mal neu positionieren. Dann lege ich die Kugel in das PerspActive ein und lassen die Anwesenden gewähren: „Jetzt ist Anna mitten im Geschehen der Gemeinde. Eure Aufgabe ist es, sie sicher und möglichst ohne ‚Rückschläge‘ durch ihr Leben zu begleiten.“
c. Verlauf
Dem sehr konzentrierten Start der Teilnehmenden folgt schnell eine Überforderung bzw. das gegenseitige Sich-Eingestehen, den Überblick verloren zu haben: In welche Richtung geht es vorwärts, wo geht es zurück? Wie müssen wir uns bewegen, damit wir das Ziel erreichen? Wo ist eigentlich Anna (die Kugel)?
Es kommt Frustration auf, einige Teilnehmer:innen werden passiv und halten die Aufgabe für nicht lösbar. Wenige Einzelne haben für sich „den Plan“ und versuchen, ohne Einbeziehung der anderen die Herausforderung zu lösen. Meist rollt die Kugel zurück und fällt an der Anfangsposition wieder heraus.
Je nach Frustrationstoleranz der Teilnehmenden interveniere ich, lassen sie das Tool auf den Boden ablegen, bitte sie, es sich aus ihrer jeweiligen Position noch einmal anzuschauen und den Eindruck festzuhalten: „Ich möchte euch bitten, einen Moment zur Ruhe zu kommen. Legt das Tool auf dem Boden ab, legt eure Schüre zu Boden und tretet einen Schritt zurück.“ Dann fordere ich die Teilnehmenden auf, sich das PerspActive von allen Seiten anzuschauen und danach mit Abstand zum Tool gemeinsam eine Lösungsstrategie zu entwickeln.
Übertragung in die echte Welt
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
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Seminarraum | Gebiet der Pfarrei |
Seminargruppe | Aktive in der Pastoral vor Ort |
Schnüre | unterschiedliche Zugangswege zu den einzelnen Gemeindegliedern |
Spielkugel | ein einzelnes Gemeindeglied |
„Welche Ideen habt ihr für ein gemeinsames Vorgehen? Was kann euch helfen, miteinander erfolgreich zu sein/zu werden? Nutzt die kurze Unterbrechung, sprecht euch untereinander ab. Dafür habt ihr fünf Minuten Zeit. ABER! Das Tool darf in dieser Zeit nicht berührt werden.“ Denn wenn das Tool auf dem Boden liegt und nicht berührt werden darf, konzentrieren sich die Teilnehmenden stärker auf den gemeinsamen Austausch und fokussieren sich auf eine Lösungsstrategie.
Sollte es bei der Gruppe gut laufen und sollte diese ohne interne Diskussionen und Schwierigkeiten die Aufgabe meistern, interveniere ich ebenfalls. Meist schlüpfe ich dabei in die Rolle eines „gemeinsamen Feindbildes“ oder einer negativ besetzten Rolle. Beispielsweise sage ich: „Entschuldigt bitte die Unterbrechung. Ich habe soeben einen Anruf aus dem Vatikan erhalten und muss euch mitteilen, dass die letzten fünf Minuten in unserem Training – also das, was die kleine Anna in den letzten fünfzehn Jahre in eurer Gemeinde gemacht hat – nicht mit dem Kirchenrecht im Einklang sind. Diese Zeit müsst ihr wiederholen.“
Dieser Satz von mir reicht aus, um das Team aus dem Konzept zu bringen. Die Konzentration ist weg! Das Team beschäftigt sich nicht mehr mit der Aufgabe, sondern mit ihrem gemeinsamen Frust gegenüber dem „Störer aus Rom“. Wenn das Team danach die Aufgabe fortsetzt, kommt es in der Regel zu den oben beschriebenen Frustrationen, da durch meine Intervention die Konzentration der Gruppe verloren gegangen ist.
d. Abschluss
Diese Abfolge – dass die Gruppe scheitert, sich danach wieder konzentriert und auf die Lösung fokussiert – führt schließlich zum gewünschten Erfolg: Nach vielem Hin und Her und mit zahlreichen Abstimmungen bewältigt das Team gemeinsam die Herausforderung: Die kleine Anna wird erfolgreich und ohne Rückschläge durch ihr Leben begleitet. Die Abstimmungen untereinander funktionieren und jede und jeder Teilnehmende hat zur richtigen Zeit und im richtigen Maße Führung und Verantwortung für Anna getragen.
Ich habe bisher keinen Durchlauf von PerspActive erlebt, der nicht am Ende erfolgreich abgeschlossen wurde.
Reflexion
Die Grundfrage der Reflexion ist stets: „Was habt ihr erlebt? Was hat euch als Team erfolgreich werden lassen?“ Da den Teilnehmenden die Realität in der Gemeinde vor Ort bekannt ist und sie darum wissen, dass es in der Begleitung der Gemeindeglieder immer wieder Lebensphasen gibt, in denen diese aus dem Blick geraten bzw. nicht versorgt sind, lautet die Standardantwort auf die Herausforderungen: „Wir müssen uns einfach besser absprechen.“ Dieser Aussage folgt dann schnell ein „ABER!“ und danach die bekannte „Litanei der Hinderungsgründe“.
Meist haben die zuvor sehr aktiven Teilnehmenden auch bei der Reflexion schnell eine Erklärung parat. Dies ist der Moment für mich, mit Einzelnen, eher passiven Teilnehmer:innen in Kontakt zu treten und sie nach ihrer Einschätzung zu fragen. Einige erklären ihre Passivität damit, dass sie während des Prozesses weder die Kugel haben sehen können noch den Prozess durch das Ziehen an ihrer Schnur merklich haben beeinflussen können.
Bei der Übertragung des Geschehenen in die Alltagsituation der Gemeinde bitte ich die Teilnehmenden, auf einer Karte kurz zu notieren, für welche Lebensphase der Gemeindeglieder sie jeweils verantwortlich sind (Kinder, Jugend, Familien …). Auf einer anderen Karte sollen sie niederschreiben, was ihre persönlichen Erfolgsstrategien zur Lösung der Herausforderung mit PerspActive waren.
Mit der Verknüpfung dieser beider Karten miteinander und einer anschließenden Auswertung beende ich die Reflexion. Aussagen zu den persönlichen Erfolgsstrategien wie
• „Ich habe immer gesagt, wann ich die Kugel gesehen habe“,
• „Ich habe gemacht, was andere gesagt haben, ohne zu wissen, ob es richtig oder falsch ist“,
• „Mal habe ich Impulse gegeben, mal habe ich nur zugehört“
bieten eine hervorragende Grundlage, thematisch weiterzuarbeiten.
Fazit
Durch PerspActive haben die Teilnehmenden erlebt, wie wichtig es ist, bei der Begleitung der Gläubigen in der Kirchengemeinde Hand in Hand zu arbeiten und die Übergänge der unterschiedlichen Lebensabschnitte zu gestalten. Der Einsatz des Tools bildet für mich die Grundlage für die weitere Konzeptentwicklung: Mit PerspActive versetze ich die Teams in die Lage, zu verstehen, dass die Gemeindeglieder in den unterschiedlichen Lebensphasen gut begleitet und gut in die jeweils folgenden Lebensphasen übergeben werden müssen. Das bedeutet, dass die kirchlichen Mitarbeiter:innen loslassen, gewachsene Strukturen und Beziehungen aufgeben und neidfrei darauf vertrauen müssen, dass die Kolleg:innen im Team ebenfalls vertrauensvoll und wohlwollend mit und für die Gemeindeglieder da sind. Die Mitarbeitenden müssen lernen, sich darauf zu verlassen, dass – auch wenn sie „ihre“ Gemeindeglieder aus den Augen verlieren – diese im Fokus der anderen sind und dort eine weiterführende Begleitung erfahren. Zugleich bleiben die Kolleg:innen mit ihrem Handeln in und für die Gemeinde ein wichtiger Faktor für das Gesamtsystem und beeinflussen dieses weiterhin durch ihre Tätigkeit. So sehen sie im gemeinsamen Handel das eine Team, das nur im Miteinander gelingt.
Aus dieser Haltung, die aus der Erfahrung mit dem Tool entstanden ist, entsteht nun in weiteren Arbeitseinheiten ein Konzept, das die verschiedenen Tätigkeitsbereiche mit deren jeweiligen Handlungsschritten und Zielen benennt, Verantwortliche benennt und notwendige Rahmenbedingungen festsetzt.