Zusammenarbeit statt Verhandlung? – Den eigenen Verhandlungsstil kennen und zielorientiert einsetzen

Team²

Pascale Parodi

 

Überblick
Eine europäisches Unternehmen mit zwei Standorten in unterschiedlichen Ländern möchte seinen Mitarbeiter:innen ein zweitägiges Präsenztraining im Bereich „Negotiation Skills“ anbieten. Ziel ist es, die Verhandlungskompetenzen quer durch die Organisation weiterzuentwickeln.
Besonderes Merkmal der Organisation ist es, dass in ihr fast alle europäischen Nationalitäten zusammenkommen. Hinzu kommen die beiden Standorte in Spanien (Management und die meisten Support-Funktionen) und Frankreich (Begleitung und operationale Betreuung der Baustellen). Bei dem Projekt handelt es sich um ein gigantisches Bauwerk, das so noch nie vorher erbaut worden ist.

 

Thema
Der Kundenauftrag lautete, die Unterschiede in den natürlichen Verhandlungsstilen greifbar zu machen, um so effizienter und souveräner in den beruflichen Verhandlungen aufzutreten. Es sollten einige grundlegende Konzepte und Modelle transferiert und in der Praxis angewendet werden.
Die Gruppe ist bereits vertraut damit, welche Aspekte (z. B. Beziehung, Prozess, Inhalt) in puncto Verhandlungen eine Rolle spielen. Die gemeinsamen mentalen Modelle wurden visualisiert und zusammengetragen.

 

Inszenierung
a. Vorbereitung
Team² wird zu Beginn des zweiten Tages eingesetzt. In der Agenda wird es als Experiment angekündigt. Die Namen „METALOG“ und „Team²“ werden nicht genannt, damit der Überraschungseffekt erhalten bleibt.
Das Experiment soll zusammentragen und sowohl den Teilnehmer:innen als auch mir visualisieren, was alles schon in der Schulung behandelt, verstanden und erreicht wurde – aber auch, welche offenen Fragen es noch gibt.
Der Raum wurde bereits von mir für die Durchführung des Experiments vorbereitet:
• Die Spielregeln hängen an der Wand (halb versteckt)
• Aus zusammengestellten Tischen wurde eine geräumige Arbeitsfläche gebildet
• Stühle stehen um die Arbeitsfläche herum
• Das Arbeitsfeld wurde mit Klebeband unterteilt
• In der Mitte des Arbeitsfelds liegen die Teile gut vermischt, sodass die Teilnehmer:innen nicht die Größe der zu erstellenden Rechtecke erraten können
• Die Holzbox bleibt versteckt

Als Variante bietet sich an, mit Stehtischen zu arbeiten. Achtung: Jede Veränderung des Settings beeinflusst die Trainingsergebnisse und das Lernen der Teilnehmer:innen.

 

b. Durchführung
„Willkommen zurück! Gestern haben wir uns bereits einen ganzen Tag kennengelernt und einige persönliche Präferenzen und theoretische Hintergründe zu Verhandlungskompetenzen besprochen. Jetzt lasst uns gemeinsam ein Experiment starten. Es wird Spaß machen. Es ist machbar, keine Falle, keine Tricks …
Verschiedene Rollen sind hierbei zu besetzen: Wir brauchen Konstrukteur:innen und eine:n Beobachter:in. Wenn ich „Rolle“ sage, meine ich nicht, wie ein:e Schauspieler:in eine Rolle spielen, sondern mit seiner eigenen Persönlichkeit eine Rolle besetzen. Unsere menschliche, natürliche Komplexität bringt genügend Unerwartetes mit sich. Bleibt bitte ihr selbst und experimentiert. Und auch in der Rolle als Beobachter:in wird es nicht langweilig, sondern sehr lehrreich werden.“

Für mich ist es am effektivsten, wenn ich nicht im Erklärmodus bin, sondern schrittweise die Ziele und die Regeln vorlese, wie ich sie vorbereitet habe.
Tipp: Die Spielregeln müssen alles enthalten, damit das Experiment durchführbar ist. Ansonsten sind sie bewusst zweideutig gehalten: Je zweideutiger, desto größer die Möglichkeit, das Thema Ambiguitätstoleranz und somit Komplexität zu thematisieren und weiter zu erarbeiten – beides ist stark mit interpersönlicher Kommunikation verbunden und kommt beim Verhandeln mit ins Spiel.
„Das Ziel ist: Jede:r baut ein Viereck aus den Bauteilen. Dazu einige Regeln:
• Nonverbale Kommunikation
• Konstrukteur:innen benutzen die Bauteile, die im eigenen Arbeitsfeld liegen
• Konstrukteur:innen dürfen Bauteile im Mittelfeld zur Verfügung stellen und sich dort bedienen
• Es ist verboten, sich direkt bei anderen Konstrukteur:innen zu bedienen
• Alle Bauteile müssen benutzt werden
• Die Aufgabe ist zu Ende, wenn alle Rechtecke vorhanden sind“

Bewusst wird dem:der Beobachter:in eine „ressourcenorientierte Brille“ angeboten. Die Leitfrage für den:die Beobachter:in lautet: „Was trägt zum Erfolg bei?“

 

c. Verlauf
Am Anfang herrscht gute Stimmung, der Spaß ist spürbar. Nach etwa zehn Minuten sind die Teilnehmenden sehr mit sich zufrieden und signalisieren mir, dass sie fertig sind. Ich schaue erstaunt und zeige auf die Spielregeln: Tatsächlich hat jede:r ein (unterschiedlich großes) Viereck fertig, aber einige Teile sind in der Mitte zurückgeblieben.
Alle Teile kommen in die Mitte zurück. Nur eine Person behält ihr kleines Viereck – sie hat das Ziel so verstanden und ist mit ihrem Viereck zufrieden, wie es ist.
Nach einigen Minuten ist allen der Spaß vergangen. Eine typische Situation, in der ich intervenieren muss, da sonst das Risiko groß wäre, dass sich die Gruppe gegen eine Person verbündet. Keine:r sollte stigmatisiert werden. Schließlich soll unser Verhalten Sinn machen für uns. Ich mache mit beiden Händen das „T“-Zeichen als Symbol für eine Auszeit: „Steht bitte auf. Jede:r macht einen Schritt zurück. Was passiert gerade?“ Nach einem dreiminütigen Austausch bitte ich die Teilnehmer:innen, wieder anzufangen.
Nach einer Weile gelingt es der Gruppe, das Ziel zu erreichen.

 

Reflexion
Die Nachbesprechung ist ein wesentlicher Bestandteil des Erfahrungslernprozesses. Sie ist eine Voraussetzung dafür, sich weiterzuentwickeln, unsere Praktiken auf andere Weise zu betrachten und so unsere Kompetenzen zu entwickeln.
Die Reflexion wird in drei Gruppen à drei Personen durchgeführt, die Gruppenergebnisse werden auf einem Flipchart festgehalten und den anderen vorgetragen. Leitende Fragen sind:
• Wie habe ich mich während des Experiments gefühlt?
• Was hat zum Erfolg beigetragen?
• Was kann ich konkret auf mein tägliches Arbeitsleben anwenden, wenn ich z. B. mit Kunden je nach meiner besonderen Situation verhandeln muss?“

Parallel dazu notiert der:die Beobachter:in auf einem Flipchart die persönlichen Erkenntnisse zu den folgenden Fragen und präsentiert sie im Anschluss:
• Was trägt zum Erfolg bei?
• Welches Verhalten hätte ich gern mehr sehen wollen?

Regel für die Nachbesprechung ist, dass nicht debattiert werden soll, sondern die Meinungen anderer so stehen bleiben sollen. Falls eine Äußerung ein starkes Gefühl generiert, sollen die Teilnehmenden versuchen, es aufzuschreiben statt auszusprechen. Vielleicht ergibt sich daraus eine zu lernende Lektion.
Nach diesem Teil des Austausches wird der Gruppe die Gelegenheit zur persönlichen Reflexion gegeben mit der Frage: „Und jetzt, wo Sie das alles wissen – was wissen Sie über Verhandlungen?“
Auf dem Flipchart werden von den Teilnehmer:innen folgende Key-Learnings gesammelt:
• Eigeninteresse und Organisationsinteresse ausgleichen
• Kreativ sein
• Sich Zeit lassen, um die Situation zu analysieren
• Ruhe bewahren
• Konzentriert bleiben
• Vorhandene Informationen/Ressourcen mit dem Team teilen
• Abstand nehmen
• Nicht urteilen, sondern versuchen, zu verstehen, warum das Verhalten einer Person für diese einen Sinn ergibt. Diesen Sinn zu erfahren, erlaubt ein besseres allgemeines Verständnis der Verhandlungsstrategie des Gegenübers.

 

Fazit
Die Teilnehmer:innen waren in der Lage, ihre eigenen, natürlichen Verhaltensweisen in Verhandlungen zu verstehen und zu benennen. Ihnen wurde deutlich, dass man – sobald man sich selbst in Bezug auf seine Überzeugungen, Werte und festgelegte/wiederkehrende Muster kennt – die Freiheit hat, seinen Weg zu ändern.
Damit wurden sie beispielsweise dazu befähigt,
• sich an den Kontext anzupassen,
• nachzudenken, was das Ziel der Organisation ist,
• ihr Ego zur Seite zu stellen,
• sich auf eine Metaebene zu begeben,
• bewusst einen anderen Verhandlungsstil zu wählen, der in dem gegebenen Umfeld mehr Sinn macht,
• die Möglichkeit zu wählen, eine Verhandlung an Kollegen zu delegieren oder ein Verhandlungsteam ins Leben zu rufen.

Was durch Bücher oder Trainer:innen vermittelt wird, ist sicherlich fundiertes Wissen. Was jedoch selbst erlebt und verinnerlicht wird, hat mehr Chance, tatsächlich umgesetzt zu werden. Diese Erkenntnis ist für mich die Kraft des „eXperience Learning“. Wissen kann man weitergeben. Wir Trainer können jedoch nur den Kontext schaffen, um Kompetenzentwicklung zu fördern. Für die Umsetzung des Wissens sitzt jeder von uns allein am Steuer.

 

Übertragung in die echte Welt

Elemente im LernprojektElemente in der echten Welt
Ziel des ExperimentsOrganisations- oder Abteilungsziele
Trainer:inLeitung als Prozessmoderator:in oder Mitarbeitercoach,
Kundenstimmen (externe Intervention)
Beobachter:inKraft und Tiefe der Analyse eines Außenstehenden in einer Metaposition, wie z. B. Projektleitung oder außenstehende Kolleg:innen
Spielregelnallgemeiner Organisationsrahmen, interne Prozesse, IT-Tools, EU-Richtlinien, Ethik usw.
Einzelne bunte TeileRessourcen, die zur Verfügung stehen, um einen Vertrag zusammenzustellen
Finanzdaten, die konsolidiert werden müssen
erforderliche Baustoffe und Ausrüstung, die eingekauft, angeliefert, eingebaut werden müssen
Mit farbigen Klebeband abgegrenzte ArbeitsfelderAbteilungen, Standorte, einzelne Büros auf der Baustelle
globales Management in einem Land und operatives Management in einem anderen
Einschränkungen aufgrund des hohen Sicherheits- und Geheimhaltungsstandards
Durchführung der Simulation ohne zu sprechendie verschiedenen EU-Sprachen
die Hindernisse an Arbeitsplätzen in verschiedenen Ländern
Zulieferer, die sich ebenfalls an verschiedenen geografischen Orten befinden
Einschränkungen aufgrund des hohen Sicherheits- und Geheimhaltungsstandard
Nonverbale KommunikationEnglisch als gemeinsame Sprache mit unterschiedlichen Sprachniveaus und Akzenten