Roger Schlegel
Vorüberlegung
Wie lässt sich ein komplexes soziales System wie ein 25-köpfiger Personalbereich einer Bank in seiner Funktionsweise erfahrbar machen?
Sie fragen sich, wer das wissen will – und warum? Nun, eben dieser Personalbereich hatte sich in den zurückliegenden zwei Jahren intensiv mit seiner Leistungstiefe, seinen Prozessen und Rollen befasst und diese optimiert. Die Arbeit an den Standorten wurde vereinheitlicht. Kern der Veränderung war eine stärkere Ausrichtung der HR-Arbeit auf die Begleitung der Führungskräfte in deren Transformationsaufgabe, bei gleichzeitiger Standardisierung von Serviceleistungen gegenüber den Bankmitarbeitern.
Ich war eingeladen, die turnusmäßige Klausurtagung zu moderieren, in der u. a. die Ergebnisse einer internen Kundenzufriedenheitsbefragung bearbeitet werden sollten. Die Befragungsergebnisse waren durchwachsen, die Veränderung des Leistungsumfangs war insbesondere bei den Bankmitarbeitern nicht überall gut angekommen, man vermisste lieb gewordene Services.
Neben der Arbeit an den Wirkungen der HR-Optimierung war für die Klausur eine Auseinandersetzung mit dem Innenleben des Teams geplant: Wie erleben wir uns als Team, wie schaffen wir es – über unsere verschiedenen Rollen hinweg –, ein leistungsfähiger Organismus zu sein? In dieses Thema stiegen wir mit einer Teamübung ein.
Tool-Auswahl
Für mich kamen zunächst mehrere Tools infrage, wobei jedes Tool andere wichtige Teilaspekte sichtbar gemacht hätte: das „SysTeam“ vielleicht die Abstimmung im Team, das „Flotte Rohr“ das Zusammenspiel in den HR-Leistungsprozessen und „Stack-Man“ die Effizienz und Lernfähigkeit des Teams. Ich entschied mich schließlich aus zwei Gründen für den „Tower of Power“: Einerseits ging es um die Teamleistung des ganzen Teams, die sich meiner Erfahrung nach mit dem Tower of Power am besten sichtbar machen lässt, zum anderen hatte ich für dieses Tool die meisten Ideen, die Inszenierung dicht an die Wirklichkeit heranzuführen.
Inszenierungsidee
Das Team sollte einen Turm aus acht Steinen bauen. Dieser Teil des Auftrags repräsentierte das Tagesgeschäft des HR-Teams, bei dem jeder Einzelne „seine Strippen zieht“. Parallel dazu musste das Team „Projekte“ bewältigen: Unterschiedliche, teilweise unhandliche Gegenstände (Ball, Zeigestock, Aktentasche, etc.) mussten in beiden Richtungen im Kreis durchgereicht werden. Das Team hatte dabei einerseits im Alltag flexibel in internen Kundenterminen und Workshops vor Ort zu sein, andererseits stets auch eine feste Erreichbarkeit und Präsenz im HR-Büro sicherzustellen. Deshalb waren drei Personen zu benennen, die den Turm im Sitzen bauen und dabei ihren Platz nicht verlassen dürfen.
Wo gearbeitet wird, passieren auch Fehler: Wie damit umgehen beim Tower of Power? Es hat sich bewährt, für umgefallene Steine eine Rettungsmöglichkeit zu eröffnen. Hierzu kann ein Teammitglied z. B. mit einer Spielzeugpistole mit Pfeilen auf aufgestellte Papierblätter schießen – gelingen bei fünf Schuss drei Treffer, ist der Stein gerettet. Alternativ ist es auch möglich, andere Geschicklichkeitsaufgaben zu verwenden, wie z. B. Dosenwerfen, eine Frisbee in einen markierten Bereich hineinwerfen usw.
Ich definiere mich in dieser Inszenierung gerne als „Bauaufsicht“. Auf diese Weise kann ich – ohne die Übung unterbrechen zu müssen – eingreifen, neue Regeln erfinden oder Hilfestellungen geben.
Auf Flipcharts hatte ich die Regeln vorbereitet:
• Bauen Sie als Team einen Turm mit möglichst vielen Steinen.
• Die Steine dürfen nur mit dem Kran berührt/bewegt werden.
• Alle Seile müssen stets gespannt sein.
• Den Anweisungen der Bauaufsicht sind unmittelbar Folge zu leisten.
• Projekte sind „quer“ zum Tagesgeschäft zu erledigen: Gegen-stände zügig weitergeben, Richtungsvorgaben beachten.
• Verlorenes Terrain muss zurückerobert werden: ein Teammitglied ist der Schütze, 5 Schuss – 3 Treffer, und der Bau geht weiter.
• 3 Stühle am selben Platz müssen permanent besetzt sein.
• Für den Bau stehen 8 Minuten zur Verfügung.
Isomorphie (= Übersetzung der realen Situationsbedingungen des Teams in die Teamübung)
Welt des Lernprojekts | Alltagswelt der Gruppe |
---|---|
Turm | Kernaufgabe des Teams |
Gegenstände im Kreis durchreichen (z. B. Ball, Zeigestock, Aktentasche) | Projekte, an denen HR-Mitarbeiter beteiligt sind |
Feste Plätze | Gesetzte Rahmenbedingungen wie Erreichbarkeit des HR-Services |
Spielzeugpistole mit Pfeilen | „Ausbügeln“ von Bearbeitungsfehlern etc. |
Ausführung
Das Team hatte sich schnell auf die Rollenverteilung geeinigt. Dabei wurden die festen Plätze durch die Mitarbeiter besetzt, die auch im Alltag die Ansprechpartner für die Mitarbeiter sind. Das Retten der verlorenen Steine übernahm der Bereichsleiter, analog zu seiner Rolle im Alltag, Konflikte zu moderieren und Probleme „nach oben“ hin auszubügeln.
Der Turmbau schreitet zunächst zügig voran, die Stimmung ist gut – vielleicht zu gut, ein Stein fällt, die Stimmung stockt kurz. Aber: Kein Problem, der Chef hat’s gerettet, der Bau geht weiter. Die Stimmung steigt wieder. Das Team positioniert sich gut um die „Rahmenbedingungen“, die sitzenden Mitarbeiter.
Die parallel zu bearbeitenden „Projekte“ (unterschiedliche Gegenstände im Kreis durchreichen) bewältigt das Team erstaunlich souverän. Der Turmbau wird dadurch nicht beeinträchtigt.
Nach sieben Minuten hat das Team sieben Steine gestapelt, der Ehrgeiz ist groß, auch den achten Stein zu setzen, als dieser beim Anheben umkippt. Der Bereichsleiter rettet erneut, das Team hat noch 25 Sekunden und ist kurz davor, ihn auf dem Turm erfolgreich abzusetzen, da passierte etwas völlig Ungeplantes: Das Telefon des Bereichsleiters klingelt (real!). Er nimmt das Gespräch an: der Vorstandsvorsitzende. Das Team ist abgelenkt, der über dem Turm schwebende Stein fällt auf den Turm und bringt ihn zum Einsturz.
Auswertung
Was wurde erlebt? Der Prozess war – trotz des Absturzes am Ende – für das Team ein Erfolgserlebnis. Immerhin, so die Einschätzung, war bis zum siebten Stein alles planmäßig. Das Team hat funktioniert, die hohe Komplexität der Aufgabe konnte gut bewältigt werden. Der Absturz wurde als „fremdinduziert“ entschuldigt.
Was ließ sich für den Alltag ableiten?
• Die Erfahrung „Wir funktionieren als Team auch unter anspruchsvollen Vorgaben“ hat das Team als stärkend erlebt.
• Während im Alltag gelegentlich „Koch-und-Kellner-Diskussionen“ zwischen den HR-Rollen geführt werden, stand hier die gemeinsame Aufgabe im Vordergrund.
• Das Team ist beweglich, um sich im Hinblick auf die „gesetzten Vorgaben“ so aufzustellen, dass die Aufgaben gut erledigt werden können.
• Der Umgang mit Fehlern und Problemen im Alltag – sowie deren Bereinigung – funktioniert reibungslos und unaufgeregt
• … Und der Anruf in letzter Sekunde deutet durchaus auf ein relevantes Thema hin: Bei unvorhersehbaren „Störungen“ lässt sich das Team mitunter aus dem Gleichgewicht bringen.
Im Rahmen der Klausurtagung haben wir diese Erfahrung im Kontext der Kundenzufriedenheit gut nutzen können: Wie können wir unsere Kunden noch besser erleben lassen, dass wir ein starkes Team sind …?
Fazit
Durch eine passende Isomorphie lässt sich die Komplexität des Alltags gut erfahrbar machen. Der Tower of Power bietet aufgrund seiner Einfachheit vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Dennoch lohnt es sich, sorgfältig die Kernaspekte zu fokussieren und die Übung nicht wahllos mit Zusatzanforderungen zu überfrachten.
Roger Schlegel ist als Coach, Teamentwickler und Trainer in der Gesellschaft für Beratungs- und Organisationskompetenz GmbH (www.gbok.de) tätig. Seine Leidenschaft ist es, authentisch-emotionale Arbeitsformate in Businesskontexten einzusetzen, die Teams intensive Begegnungen und zieldienliche Entwicklungsschritte ermöglichen. Er ist u. a. als EOL-Trainer (METALOG®) ausgebildet.