Stephanie Schöllkopf
Überblick
Nach den ersten Unterrichtstagen und -wochen eines neuen Schuljahres zeigt sich, dass in vielen Berufsschulklassen Schüler:innen unterschiedlichsten Alters aus vielfältigen Kulturkreisen, mit den unterschiedlichsten Schullaufbahnen, Sprachniveaus und Lebenswegen aufeinandertreffen. Dies führt zu durchaus herausfordernden Situationen im Unterricht: sowohl für die Schülerschaft selbst als auch für die Lehrkräfte. Konkret bedeutet es, dass in einer Berufsschulklasse Schüler:innen im Alter von 15 bis etwa 28 Jahren mit den verschiedensten Kompetenzen aufeinandertreffen und dass nahezu alle möglichen Bildungsgänge vom Hauptschulabschluss bis hin zum Studium in einer Klasse vertreten sind. Nicht immer nehmen die Schüler:innen diese Heterogenität und die unterschiedlichen Voraussetzungen, die sie mitbringen, als Bereicherung wahr, sondern reiben sich vielmehr häufig an der Unterschiedlichkeit ihrer Mitschüler:innen auf.
Eine sorgfältige Einführungsphase wie die bei uns an der Robert-Bosch-Schule Ulm eingeführten „Basistage“, die den Fokus auf Teambildung, gegenseitiges Kennenlernen und das Festlegen und Einüben von gemeinsamen Klassenregeln legen, ist daher unabdingbar. So können die Schüler:innen Toleranz, Wertschätzung und ein konstruktives Miteinander innerhalb und auch außerhalb der Schule erfahren und auch praktizieren.
Trotz der zeitlich begrenzten Möglichkeiten sollten die Schüler:innen auch nach einer sorgfältig durchgeführten Einführungsphase im Verlauf des Schuljahres immer wieder die Gelegenheit bekommen, im Rahmen von Lernprojekten und unter Einsatz von METALOG training tools an die – auch vom Bildungsplan geforderten – Sozial- und Kommunikationskompetenzen anzuknüpfen und diese zu erweitern.
Thema: „Allein ist man stark, gemeinsam unschlagbar“
Im Fokus dieses Lernprojekts soll die Erkenntnis stehen, dass eine Gruppe von der Verschiedenheit ihrer Mitglieder lebt und dass die sich ergänzenden unterschiedlichen Kompetenzen die Gruppe bereichern. Auch sollen die Schüler:innen selbst erfahren, dass Toleranz und Wertschätzung gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen und Blickrichtungen ein wertschätzendes Miteinander ausmachen. Darüber hinaus ist auch ein Bildungsplanbezug für die allgemeinbildenden Fächer gegeben. Beispielsweise geht es im Fach Deutsch (Modul 1) darum, dass die Schüler:innen kommunikative Situationen in unterschiedlichen Zusammenhängen gestalten, sich mit ihrem eigenen Sprechverhalten auseinandersetzen und die verschiedenen Rollen als Zuhörer:in oder Sprecher:in wahrnehmen.
Inszenierung
a. Vorbereitung
In der Mitte des Klassenzimmers werden zwei Doppeltische so aneinandergeschoben, dass eine große „Aktionsfläche“ entsteht, auf der die 36 unterschiedlichen Bauteile von FutureCity aufgestellt bzw. ausgelegt werden. Um die Aktionsfläche herum sollte ausreichend Platz zur Verfügung stehen – idealerweise werden die Stühle und die überschüssigen Tische im Vorfeld zur Seite geschoben bzw. aus dem Klassenzimmer entfernt.
Vor der Durchführung sollten unbedingt die Rollen („Macher:innen“ und „Visionär:innen“) innerhalb des Lernprojekts FutureCity durch die Lehrkraft festgelegt werden. Die Rollen können dabei per Zufallsprinzip oder ganz bewusst zugeteilt werden. Die bewusste Zuordnung bietet sich vor allem in Klassen an, die sich durch einen hohen Anteil an Schüler:innen mit niedrigem Sprachniveau (A1) auszeichnen. So können Tandems gebildet werden, die sich sprachlich ergänzen und unterstützen, sodass sich auch Personen mit geringeren Sprachkenntnissen am Lernprojekt beteiligen können.
Auch sollten im Vorfeld die für das Lernprojekt geltenden Regeln bekannt gegeben und besprochen werden. Hilfreich ist es dazu, die Regeln auf einem Flipchart festzuhalten und dieses während der Durchführung des Lernprojekts in Reichweite und für alle einsehbar im Klassenzimmer zu platzieren:
Regeln:
• Verwenden Sie alle Bauteile
Die Visionär:innen:
• dürfen die Bauteile nicht anfassen
• dürfen ihre Informationen nur mündlich weitergeben
• dürfen ihre Bildkarten nicht zeigen
Die Macher:innen:
• dürfen am Tisch Platz nehmen
• dürfen die Bauteile anfassen
• bauen anhand der Informationen der Visionär:innen die Stadt auf
b. Durchführung
Zunächst nehmen die Schüler:innen gemäß ihrer Rolle ihren Platz am Tisch oder um den Tisch herum ein. Den Visionär:innen werden nun die Bildkarten ausgeteilt. Mit der Nennung der Aufgabe startet das Lernprojekt: „Bauen Sie die FutureCity exakt nach den ausgegebenen Plänen und unter Einhaltung der genannten Regeln auf.“ Eine Zeitvorgabe erhöht für die Klasse die Spannung und den Leistungsdruck.
Übertragung in die echte Welt
Elemente im Lernprojekt | Elemente in der echten Welt |
---|---|
Macher:in | ein Teammitglied ... das Dinge in die Hand nimmt, Aufgaben konkret und praktisch umsetzt, Anweisungen benötigt |
Visionär:in | ein Teammitglied ... das über den Überblick verfügt Dinge im großen Zusammenhang sieht |
Aufbau der FutureCity gemäß Bauplan | durch Ergänzung der Kompetenzen der Teammitglieder erfolgreich abgeschlossenes Gesamtprojekt |
Während die Visionär:innen die Aufgabe haben, ihre Informationen zum Aufbau der Stadt an die Macher:innen nur mündlich weiterzugeben, und selbst nicht „mitbauen“ dürfen, haben die Macher:innen nun die Aufgabe, basierend auf den Informationen der Visionär:innen die FutureCity aufzubauen. Der nun einsetzende Bauprozess ist gekennzeichnet von Missverständnissen, Irrungen und Wirrungen durch die Weitergabe von Informationen, die je nach Sichtweise oder Blickwinkel hilfreich bzw. weniger hilfreich sind. Ohne gezielte Koordination der Informationsweitergabe nach Absprache unter den Visionär:innen sind Missverständnissen unter den Macher:innen unvermeidlich.
c. Abschluss
Nach etwa 35 Minuten wird das Lernprojekt beendet. Gelingt es der Klasse in der vorgegebenen Zeit nicht, die FutureCity gemäß der Vorgabe zu bauen, wird die Durchführung des Lernprojekts dennoch beendet. In beiden Fällen ist eine Auswertung unbedingt nötig.
Reflexion
Im Anschluss an die Durchführung des Lernprojekts erfolgt unbedingt eine Auswertungsphase. So bekommen die Schüler:innen zunächst die Gelegenheit, über die eben gemachten Erfahrungen zu sprechen und ihre Sicht der Dinge zu schildern. Sowohl die Gruppe der Macher:innen als auch die Gruppe der Visionär:innen hat die unterschiedlichsten Erfahrungen mit ihren jeweiligen Rollen und die damit verbundenen Regeln und Kompetenzen gemacht. Sie sollten sich nun gegenseitig davon berichten. So kommen die Schüler:innen auch gemeinsam zu der Erkenntnis, welche Kompetenzen dazu beigetragen haben, dass das Lernprojekt erfolgreich absolviert werden konnte.
Folgende Erkenntnisse konnten die Schüler:innen aus dem Lernprojekt ableiten:
• Rollen/Aufgaben in Projekten können nicht immer gewählt werden
• Der Austausch der Sichtweise jedes:jeder Einzelnen ist wichtig
• Der Austausch in einer Gruppe muss koordiniert werden
• Wertschätzende Kommunikation und Kooperation sind Gelingensbedingung für erfolgreiche Zusammenarbeit
• Jede:r Einzelne kann einen Beitrag zum Gelingen des Projekts leisten
• Für ein Projekt/eine Aufgabe sind verschiedene Sichtweisen und Fähigkeiten nötig
• Keine:r sollte sich zu wichtig nehmen
• Schuldzuweisungen sind nicht hilfreich, um ein Projekt erfolgreich abzuschließen
Fazit
Das Lernprojekt FutureCity stellt für nahezu jede Klasse eine echte Herausforderung und gleichzeitig auch ein mögliches Erfolgserlebnis dar. Die Schüler:innen erfahren bei der Durchführung des Lernprojekts, dass jede:r Einzelne einen Beitrag zum Gelingen des Gesamtprojekts leistet, aber keine:r sich dabei zu wichtig nehmen darf. So zeigt sich immer wieder, dass die Sichtweise des:der einen nicht unbedingt auch die Sichtweise eines:einer anderen sein muss. Doch nur durch Akzeptanz und Austausch der Sichtweise einer bestimmten Rolle kommt man zum Erfolg.
Auch muss koordiniert werden, wie die Klasse miteinander agiert und wer Anweisungen gibt, damit die „Macher:innen“ das Wissen der „Visionär:innen“ und die Infos aus den Übersichtskarten umsetzen können. Dabei wird von Schüler:innen erfahrungsgemäß auf das am Anfang des Schuljahres erstellte Regelwerk Bezug genommen und auch auf die Erfahrungen aus früheren Lernprojekten zurückgegriffen, die auf diese Weise wiederum vertieft und gefestigt werden.
Ob Macher:in oder Visionär:in – keine:r kann ohne den Blickwinkel und die Kompetenz des:der anderen erfolgreich ihre:seine Aufgabe absolvieren. Denn es sind nicht nur in diesem Lernprojekt, sondern auch im Unterrichtsalltag verschiedene Blickwinkel erforderlich, und nur durch das Mitwirken aller kann das Projekt bzw. das Miteinander in einer Klasse gelingen.